Samstag, 19. April 2014

Der Arzt von St. Pauli (1968) Rolf Olsen

Inhalt: Dr. Jan Diffring (Curd Jürgens) praktiziert als Arzt an der Reeperbahn und besitzt das volle Vertrauen der hier arbeitenden und lebenden Menschen. Niemals würde er der Polizei Informationen geben und wegsehen, wenn sich Jemand in Not befindet. Als er in den frühen Morgenstunden mit seiner Arzttasche auf der Reeperbahn unterwegs ist, kommt er einer jungen Frau zu Hilfe, die von ein paar Männern zusammen geschlagen wird.

Er ahnt nicht, dass dieser Überfall im Zusammenhang mit Sex-Partys steht, die für eine Klientel reicher Geschäftsmänner veranstaltet wird und an der sein Bruder Klaus (Horst Naumann) beteiligt ist. Obwohl dieser als Gynäkologe in einem wohl situierten Hamburger Stadtteil arbeitet, hat er hohe Schulden und ist gezwungen, reiche verheiratete Damen, die bei ihm eine ungewollte Schwangerschaft beseitigen lassen wollen, für diese Partys gefügig zu machen. Unfreiwilligen Kontakt zu diesen Vorkommnissen erhält Jan Diffring, als sich der Seemann Hein (Fritz Wepper) an ihn wendet, um Informationen über seine Verlobte Margot (Christiane Rücker) zu erhalten, die nach seiner Rückkehr verschwunden ist. Er weiß nicht, dass Margot kräftig bei den Partys mitmischt…


Die Faszination des am Hamburger Überseehafen gelegenen Stadtteils St. Pauli als modernem Sündenbabel entstand aus dessen extremen Kontrast zum konservativen, stark regulierten Bürgertum in Deutschland. St. Pauli, genauer die Reeperbahn, wurde zum Synonym für den ausschweifenden Umgang mit Sex, Alkohol, Drogen und Gewalt und symbolisierte gleichzeitig Abgrund, Freiheit und Widerstand. Dieser Hintergrund ermöglichte Helmut Käutner in die "Große Freiheit Nr.7" (1944) eine authentische Geschichte von Menschen zu erzählen, die nicht nach den Vorstellungen der damaligen Machthaber handelten. Selbst harmlose Unterhaltungsfilme wie das späte Heinz Rühmann / Hans Albers -Vehikel "Auf der Reeperbahn nachts um halb eins" (1954) erhielten dadurch noch ein wenig Tragik und Realitätsbezug.

Auch international besaß St. Pauli den Ruf eines Ortes der Extreme. In "La fille de Hambourg" (Das Mädchen aus Hamburg, 1958) - nach dem ersten Drehbuch des Erotik-Pioniers José Bénazéraf - arbeitet die Protagonistin auf der „sündigen Meile“ und für Francesco Rosi war diese so glitzernde, wie unberechenbare Welt der geeignete Ausgangspunkt für sein Gastarbeiter-Drama "I magliari" (Auf St. Pauli ist die Hölle los, 1959). Parallel schuf der gebürtige Hamburger Jürgen Roland mit seinen in einem dokumentarischen Stil gehaltenen Kriminalfilmen ein realistisches Bild des Lebens an den Landungsbrücken. Mit der nach einem Drehbuch Wolfgang Menges entstandenen Fernsehserie "Stahlnetz" (ab 1958), dem exemplarischen "Polizeirevier Davidswache" (1964) und "4 Schlüssel" (1965) bereitete er den Boden für einen Mitte der 60er Jahre eintretenden St.Pauli-Trend. Die dort vorhandene untrennbare Einheit aus "Sex and Crime" erwies sich im Film als ideal für Tabubrüche im aufkommenden Erotik- und Exploitation-Genre.

Entsprechend ließ José Bénazéraf seinen einzigen deutschen Film "St.Pauli zwischen Nacht und Morgen" (1967) vor der Hamburger Kulisse spielen und der österreichische Regisseur Rolf Olsen drehte nach "Wenn es Nacht wird auf der Reeperbahn" (1967) noch fünf weitere St. Pauli-Filme bis zu "Käpt'n Rauhbein aus St. Pauli" (1971), die jeweils auf Basis eines selbst verfassten Drehbuchs entstanden. "Der Arzt von St. Pauli" folgte 1968 zwar als zweiter Film, steht aber für den eigentlichen Beginn der "Serie", da Curd Jürgens ab diesem jeweils die Hauptrolle übernahm. Neben Jürgens gehörten Heinz Reincke (5mal) als einfacher Kerl aus dem Milieu mit dem Herzen auf dem rechten Fleck, und Fritz Wepper (3mal) als junger, manchmal über die Strenge schlagender, aber grundanständiger Love-Interest für wechselnde hübsche Damen zum festen Bestandteil des Casts. Von den weiblichen Darstellern durfte einzig Christiane Rücker - seit "Die Liebesquelle" (1965) für ihre freizügigen Rollen bekannt – zweimal ihren Körper demonstrieren.

Diese Voraussetzungen lassen schon das Grundgerüst des Olsenschen „St. Pauli – Panoptikums“ erkennen, das vom Überleben an einem Ort erzählt, der ständige Versuchungen bereithält – und damit gleichzeitig locken und abschrecken wollte. „Der Arzt von St. Pauli“ funktioniert in dieser Hinsicht beispielhaft, denn er erzählt die Geschichte eines gegensätzlichen Brüderpaars, beide Mitte 50, die die jeweilige Seite repräsentieren. Während Dr. Jan Diffring (Curd Jürgens) direkt an der Reeperbahn praktiziert und sich auch unentgeltlich der Prostituierten und Alkoholkranken annimmt, residiert sein Bruder (Horst Naumann) als Gynäkologe in einem mondänen Hamburger Stadtteil. Olsen scheute keine gängigen Klischees in der Gegenüberstellung eines engagierten Arztes und eines reichen, hoch verschuldeten Schnösels, der gut aussehende Damen aus reichem Hause, die sich zwecks einer Abtreibung an ihn wenden, gegen Bezahlung für Partys unter Geschäftskollegen sexuell gefügig macht. Die moralische Dimension lag klar auf der Hand - hier die einfachen, trotz ihrer zwielichtigen Profession als Prostituierte, Boxer oder Bar-Keeper, grundanständigen Menschen, dort die nach außen moralischen Anstand verkörpernden Großbürger, die Andere für ihre Vergnügungssucht ausbeuten - eine explosive Mischung, die Olsen, begleitet von erotischen Einlagen, zu ordentlichen Gewaltexzessen nutzte.

Hinsichtlich der einzelnen Charakterisierungen blieben einige Fragen offen, so lange sich die Protagonisten wie Rädchen in das Geschehen fügten. Die von Christiane Rücker gespielte Margot arbeitet als Animier-Mädchen bei den Partys der besseren Herren, verfolgt aber eigene Ziele, in dem sie die unter Drogen gesetzten Damen mit Fotos erpresst. Für die Organisatoren ein Ärgernis, das sich als tödlich für Margot herausstellt. Als ihr Mörder gerät der gerade in seinem Heimathafen eingetroffene Seemann Hein (Fritz Wepper) in Verdacht, der seit zwei Jahren mit ihr verlobt war und wenig begeistert darauf reagiert, dass sie plötzlich mit einem anderen Mann zusammenlebt und keine Lust mehr auf bescheidene Lebensverhältnisse hat. Wie es zu ihrer rigorosen Veränderung kommen konnte, lässt der Film ebenso offen, wie die Vergangenheit der beiden so unterschiedlichen Ärzte-Brüder. Jan Diffring erwähnt, dass es schon einmal zehn Jahre gedauert hätte, bis der Staat begriffen hätte, dass er nur seine Pflicht getan hätte (wie jetzt seine Pflicht als Mensch und Arzt). Das weist zumindest auf einen Bruch in seinem Lebenslauf hin, ohne die Zusammenhänge näher zu erläutern.

Trotz des Molochs aus Sex und Gewalt, den Rolf Olsen abwechslungsreich und spektakulär vor seinem Publikum ausbreitete, wurden gewisse Konzessionen eingehalten. Dieter Borsche spielt einen verständnisvollen, tief im Milieu verwurzelten Pfarrer, der immer ein Auge auf seine schwarzen Schäfchen hat - eine Rolle die er in „Der Pfarrer von St. Pauli“ nochmals interpretierte – und sowohl Seemann Hein bekommt zum Schluss ein anständiges Mädchen (Marianne Hoffmann) als Verlobte an die Seite gestellt, als auch Boxer Willi (Heinz Reincke) darf in den Hafen der Ehe mit einer Prostituierten einfahren. Trotzdem blieb Olsen dem St. Pauli - Image treu und vermied weitere Annäherungen an bürgerliche Positionen, wobei er neben dem lokalen Hintergrund vor allem vom Spiel Curd Jürgens profitierte, dem es gelang, die Rolle des Arztes zwischen Fatalismus und bärbeißigem Samaritertum anzusiedeln.

"Der Arzt von St. Pauli" Deutschland 1968, Regie: Rolf Olsen, Drehbuch: Rolf Olsen, Darsteller : Curd Jürgens, Horst Naumann, Heinz Reincke, Fritz Wepper, Christiane Rücker, Dieter Borsche, Laufzeit : 96 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Rolf Olsen:

Donnerstag, 17. April 2014

Ich klage an (1941) Wolfgang Liebeneiner

Inhalt: Hanna (Heidemarie Hatheyer) kann ihre Freude über die Berufung ihres Mannes, Professor Thomas Heyt (Paul Hartmann), an das renommierte Münchner Pettenkofer-Institut kaum zurückhalten. Vor Temperament überquellend lädt sie spontan ihren Freundeskreis ein, begleitet von ihrer kopfschüttelnden Hausdame (Margarete Haagen) , die die Tochter aus reichem Hause nach dem Tod ihrer Mutter von Klein auf erzogen hatte. Selbst Hannas großer Bruder, der ihrem Ehemann immer skeptisch gegenüberstand, zeigt sich angesichts des Erfolgs seines Schwagers einsichtig, nur Dr. Bernhardt Lang (Mathias Wieman), der älteste Freund des Paares, selbst einmal in Hanna verliebt, verspätet sich.

Er musste noch dringend nach einem schwer erkrankten Neugeborenen sehen, weshalb er wenig Feierlaune mitbringt. Trotzdem lässt er sich von Hanna dazu überreden, mit ihr und ihrem Mann gemeinsam zu musizieren. Zuerst erklingt ihr Trio in gewohnter Qualität, doch dann versagt mehrfach Hannas Hand am Klavier, so dass sie abbrechen müssen. Die junge Frau verspricht ihrem Mann, sich von Bernhardt untersuchen zu lassen, ohne die Sache allzu ernst zu nehmen, denn sie vermutet, schwanger zu sein. Doch Bernhardts Diagnose bedeutet ihr wahrscheinliches Todesurteil… 


Regisseur Wolfgang Liebeneiner inszenierte 1947, kurz nach dem Krieg, die Uraufführung von "Draußen vor der Tür" an den Hamburger Kammerspielen, ein exemplarisches Werk der kritischen deutschen Nachkriegsliteratur, das nach dem frühen Tod seines Autors Wolfgang Borchert zu Berühmtheit gelangte. Dessen Beschreibung eines Kriegsheimkehrer-Schicksals verfilmte Liebeneiner zwei Jahre später in "Liebe 47" (1949) - der erneute Startschuss eines intensiven Filmschaffens, mit dem er fast nahtlos an seine erfolgreiche Karriere während der Zeit des Nationalsozialismus anknüpfte. Begonnen hatte er unter anderen mit zwei Rühmann-Komödien ("Der Mustergatte" (1937) und "Der Florentiner Hut" (1939)), bevor er eng mit dem Propaganda-Ministerium zusammenarbeitete, Produktionschef der UFA wurde und von Joseph Goebbels 1943 den Professoren-Titel verliehen bekam.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Liebeneiner schon 1945 als Theaterregisseur weiter arbeiten durfte und sich wenig später eines Autors wie Wolfgang Borchert annahm, der mehrfach wegen seiner kritischen Haltung gegenüber der NSDAP und Wehrkraftzersetzung im Gefängnis saß. Zu verdanken hatte Liebeneiner diese Möglichkeit der Tatsache, dass seine zwei Filme über Bismarck ("Bismarck" (1940) und "Die Entlassung" (1942)) zwar als historisch verfälschend, aber minderschwere Propagandafilme eingeordnet wurden. Seine Mitwirkung am Durchhalte-Film "Kolberg" (1945) war nicht offiziell und der unvollendete, in den letzten Kriegsmonaten gedrehte "Das Leben geht weiter" (1945) gilt als verschollen. Einzig der 1941 zwischen den Bismarck-Filmen entstandene "Ich klage an" darf heute als "Vorbehaltsfilm" nur beschränkt und unter pädagogischer Anleitung in Deutschland gezeigt werden, verfügt aber weder über antisemitische, noch kriegstreiberische Tendenzen, weshalb er Liebeneiner nach dem Ende der Nazi-Diktatur nicht belastete.

In Unkenntnis der Zusammenhänge während seiner Entstehungszeit, ließe sich "Ich klage an" als engagierter Beitrag zu der nach wie vor aktuellen Diskussion über das Recht zur "aktiven Sterbehilfe" betrachten, zudem ausgezeichnet gespielt, straff inszeniert und trotz seiner zweistündigen Länge bis zum Schluss die Spannung hochhaltend. Gehört das erste Drittel des Films dem Glück des erfolgreichen, gerade an das renommierte Pettenkofer-Institut nach München berufenen Mediziners Professor Thomas Heyt (Paul Hartmann) und seiner jungen, lebenslustigen Frau Hanna (Heidemarie Hatheyer), die spontan eine Feier zu seinen Ehren veranstaltet, beschreibt der Film in seinem zweiten Drittel die Zerstörung ihres Lebenstraums durch ihr fortschreitendes Siechtum. In dieser Phase hält der Film das Gleichgewicht zwischen Drama und Action, in dem er Hannas Todeskampf mit dem verzweifelten Versuch des Forscherteams um Professor Heyt, ein Mittel gegen die Multiple Sklerose zu entdecken, verzahnt, bevor das letzte Drittel zum klassischen Gerichts-Drama mutiert bis zum abschließenden emotionalen Schluss-Plädoyer des Angeklagten.

Wolfgang Liebeneiner entwickelte aus der Romanvorlage "Sendung und Gewissen" des Mediziners Hellmuth Unger, Mitglied des Reichsausschusses zur Erfassung Erb- und Anlagebedingter Schwerer Leiden, ein geschickt manipulierendes Drehbuch, dass seine wohlwollende Haltung für die aktive Sterbehilfe strategisch und Gegenargumenten vorgreifend aufbaute. Mit Heidemarie Hatheyer wählte Liebeneiner eine Darstellerin, die sich als kraftstrotzende und eigenständig handelnde junge Frau in "Die Geierwally" (1940) einen Namen gemacht hatte, womit er ihrer Position als um Sterbehilfe bettelnde Todgeweihte die Passivität nahm. Hanna handelt nicht als Opfer, sondern im Bewusstsein, nicht mehr ihre Funktion ausfüllen zu können - ihr Tod wird im Film als Befreiung gezeigt, als erlösender Akt in den Armen des geliebten Mannes. Dass es sich bei diesem um einen renommierten Arzt handelt, zudem Leiter eines aus Koryphäen bestehenden Forscherteams, sollte die theoretische Möglichkeit einer Heilung ausschließen - wenn sie es nicht schaffen, dann Niemand.

Doch das hätte nicht genügt, seinen Akt, ihr Gift zu verabreichen, zu legitimieren, weshalb mit Dr. Bernhardt Lang (Mathias Wieman) ein zweiter, der Sterbehilfe ablehnend gegenüber stehender Arzt, dem Ehepaar zur Seite gestellt wurde. Bei der Feier zu Beginn treten sie gemeinsam als musikalisches Trio auf, um ihre enge Zusammengehörigkeit zu demonstrieren, aber Bernhardt Langs Rolle ist ihre Konstruiertheit deutlich anzumerken. Hannas Äußerung ihm gegenüber, sie hätte ihn geheiratet, hätte er sie gefragt, bevor sie ihren jetzigen Mann traf, kann nur als Kränkung des nach wie vor von ihr begeisterten Mannes verstanden werden und passt nicht zu ihrem freundlichen Wesen. Ebenso unprofessionell ist die Aussage ihres sonst so seriösen Mannes, der Bernhardts erschütternde Diagnose, Hanna hätte Multiple Sklerose, auf dessen Eifersucht zurückführt, obwohl sich deren Wahrheitsgehalt schon in der nächsten Szene herausstellt.

Liebeneiner wollte damit die Zögerlichkeit und Unsicherheit des praktizierenden Arztes betonen, der schon nicht in der Lage war, die geliebte Frau zu erobern, obwohl er die beste Ausgangssituation besaß. Professor Heyt wird dagegen als Mann der Tat charakterisiert, der sich auch von Ablehnung und Skepsis nicht abschrecken ließ, wie sie ihm wiederholt in seinem Berufs- und Privatleben widerfahren war - zu unrecht, wie seine Berufung an das Pettenkofer-Institut suggerieren soll. Während die Liebe zwischen dem Professor und seiner Frau im Film mehrfach idealisiert wird, um den Vorwurf eigennütziger Intentionen auszuschließen, wird Dr. Lang parallel mit dem Schicksal eines Säuglings konfrontiert, dessen Leben er mit allen Mitteln der Medizin zu retten versucht, dabei aber nicht verhindern kann, dass das kleine Mädchen schwere Nebenwirkungen am Gehirn erleidet. Hatten die Eltern ihn zuvor gebeten, alles für die Heilung des Kindes zu unternehmen, beknien sie ihn jetzt, dessen Leben ein Ende zu bereiten. Angesichts des elenden Zustands des Kindes überdenkt Dr. Lang seine Meinung.

Die Nationalsozialisten hatten 1940 begonnen, systematisch aus ihrer Sicht „unwertes Leben“ zu vernichten, da dieses dem propagierten Rassenideal nicht entsprach. Bis 1941 wurden ca. 70000 Behinderte und sonstige „unerwünschte Elemente“ in der „Aktion T4“ auf Basis von Gutachten in sogenannten „Euthanasie“ - Anstalten ermordet, bis der Unmut in der Bevölkerung wuchs. Offiziell wurde die Aktion daraufhin beendet, heimlich aber weiter geführt. An dieser Schnittstelle entstand „Ich klage an“, um eine positive Stimmung für das als „aktive Sterbehilfe“ verklausulierte Euthanasie-Programm zu erzeugen. Dem Film ist diese direkte Verbindung oberflächlich nicht anzumerken, denn Joseph Goebbels ließ die Urfassung ändern, um jeden politischen Bezug zu vermeiden. Die Gerichtsverhandlung wirkt fast absurd in der Abwesenheit nationalsozialistischer Insignien und geprägt von einer toleranten Haltung.

Auch ohne das Wissen über diese historischen Zusammenhänge – ganz konkret wird im Film eine Kommission zur Entscheidung über Sterbehilfe vorgeschlagen, da den Ärzten diese Verantwortung nicht zugemutet werden könnte – und trotz der unterschwelligen Manipulation entlarvt der Film unfreiwillig das dahinter stehende unmenschliche System. Es wird zwar viel von Liebe und Aufopferung geredet, aber immer nur im Zusammenhang mit einem funktionierenden, sinnvollen Leben. Schwäche, Krankheit, Behinderung oder Niedergang besitzen keinen Wert, sondern geben nur Anlass, den Menschen von seinem Leiden zu erlösen. Hier an zwei extremen, unheilbaren und einen allgemeinen Konsens anstrebenden Beispielen exerziert. Doch sowohl an der geänderten Haltung der Säuglings-Mutter, als auch an der Hilfestellung des Ehemanns bleibt die Rationalität haften, mit der die Entscheidung über den Wert eines Lebens abgewogen wurde. Intuitiv, verrückt, unlogisch oder bedingungslos – und damit schlicht menschlich – ist nichts in diesem kalten, berechnenden Film.

"Ich klage an" Deutschland 1941, Regie: Wolfgang Liebeneiner, Drehbuch: Wolfgang Liebeneiner, Eberhard Frowein, Hellmuth Unger (Roman), Darsteller : Heidemarie Hatheyer, Paul Hartmann, Mathias Wieman, Margarete Haagen, Albert Florath, Erich Ponto, Hans Nielsen, Laufzeit : 119 Minuten


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Dienstag, 1. April 2014

Trotta (1971) Johannes Schaaf

Inhalt: 1914 – Unter den jungen Offizieren, zu denen auch Baron Franz Ferdinand Trotta (András Bálint) gehört, verbreitet sich schnell die frohe Kunde kommender Kampfhandlungen, nachdem die K.u.K. Monarchie Österreich-Ungarn an der Seite Deutschlands in den Krieg eingetreten ist. Doch bevor sie zur Front aufbrechen, will Trotta noch schnell die von ihm geliebte Elisabeth (Doris Kunstmann) heiraten, obwohl sie seiner Mutter als Bürgerliche nicht gefällt. Doch Trotta setzt sich durch und hält erfolgreich um ihre Hand an. Die Hochzeitsnacht verläuft weniger nach seinem Geschmack, denn Elisabeth verlässt ihn noch in derselben Nacht, da er statt bei ihr am Sterbebett seines alten Dieners, der einen Infarkt erlitten hatte, verweilt.

1918 – die heroischen Zeiten sind vorbei und Trotta kommt nach langer Kriegsgefangenschaft in Russland wieder nach Wien zurück. Die Adelstitel wurden in Österreich nach dem Zusammenbruch der K.u.K.-Monarchie verboten, aber ihm bleibt noch der Familiensitz, in dem er gemeinsam mit seiner Mutter wohnt. Elisabeth hat er nicht vergessen und versucht, wieder Kontakt zu ihr aufzunehmen, obwohl sie mit Almarin (Rosemarie Fendel) in einer lesbischen Beziehung zusammenlebt, wie es hinter vorgehaltener Hand heißt. Seine Mutter rät ihm deshalb ab, aber er beginnt sich regelmäßig mit Elisabeth zu verabreden bis es zu einem ersten, mehr von ihm erzwungenen Beischlaf zwischen ihnen kommt. Wenig später stellt sich heraus, dass Elisabeth schwanger ist. Und sie will das Kind gegen den Willen ihrer Freundin bekommen…

Mit seinem zweiten Kinofilm "Trotta" gelang Johannes Schaaf 1971 ein überraschender Erfolg, denn die Verfilmung eines kritischen, vor dem 2.Weltkrieg entstandenen Romans unter Verwendung moderner Stilmittel traf den Nerv des damaligen Publikums. Trotz, vielleicht auch wegen seiner eigenständigen künstlerischen Umsetzung geriet "Trotta" vollständig in Vergessenheit und wurde auch nicht auf Video veröffentlicht. Ein Zustand, der dank des Labels FILMJUWELEN der Vergangenheit angehört, denn seit dem 28.03.2014 existiert eine sehr schöne DVD, die zudem über ein ca. 45minütiges, aktuelles Interview mit dem Regisseur Johannes Schaaf verfügt (Schaaf erwähnt den Tod seines Co-Autors Maxilimilian Schell, der am 01.02.2014 starb). Erst auf Basis der darin geäußerten Hintergrundinformationen war es mir möglich, "Trotta" angemessen zu rezensieren (die grünen Links führen zur Amazon-Bestellseite).







Johannes Schaafs zweiter Kinofilm "Trotta" - seit den frühen 60er Jahre drehte der auch als Schauspieler aktive, gelernte Theater-Regisseur, Fernsehfilme - lief 1971 erfolgreich in den Kinos und wurde mit einer Vielzahl bundesdeutscher Filmpreise bedacht, geriet aber trotzdem schnell wieder in Vergessenheit. Ein nicht seltenes Schicksal deutscher Filme an der Schnittstelle zwischen dem Ende des traditionellen Kinos der 50er und 60er Jahre und der aufkommenden Unterhaltungs-Filmindustrie, die zunehmend von Hollywood-Produktionen bestimmt werden sollte. Anders als Schaafs Kino-Erstling "Tätowierung" (1967), der stilistisch unmittelbar auf den sich verändernden Zeitgeist der aufkommenden Studentenunruhen reagierte, erfüllte "Trotta" mit einer Mischung aus ruhig inszeniertem, qualitativem Schauspieler-Kino, historischen Kulissen und seriös integrierten modernen Stilmitteln wie Eberhard Schöners von einem Synthesizer interpretierte Wiener Caféhaus-Musik und erotischen Nuancen gleichgeschlechtlicher Liebe, Anfang der 70er Jahre angesagte Kriterien. Zudem eignete sich der Roman des jüdischen Autors Joseph Roth "Die Kapuzinergruft", herausgegeben 1938, als ideale Vorlage, da er die Phase bis zum Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland beleuchtete – eine inzwischen generell akzeptierte, zeitkritische Thematik.

Mit Doris Kunstmann und Rosemarie Fendel war „Trotta“ zwar prominent besetzt, aber der restliche Cast setzte sich aus in Deutschland wenig bekannten ungarischen Darstellern zusammen, da der Film größtenteils in Ungarn gedreht wurde – dort fand Schaaf noch vermehrt die Überbleibsel der vergangenen K.u.K.-Monarchie und des Österreichs der folgenden Jahre bis 1938 vor. „Die Kapuzinergruft“ beginnt mit dem Ausbruch des 1.Weltkriegs 1914, womit Joseph Roth in seinem letzten Roman den Faden seines 1932 veröffentlichten „Radetzky Marsch“ wieder aufnahm, der den Zeitraum der K.u.K.-Monarchie bis zu deren Ende 1918 an drei Generationen der Familie Trotta beleuchtete. Doch obwohl mit Franz Ferdinand Trotta (András Bálint) erneut ein Mitglied dieser Familie im Mittelpunkt stand, war „Die Kapuzinergruft“ keine konkrete Fortsetzung, denn „Radetzky Marsch“ endete mit dem Tod des letzten Trotta – damit auch das Ende des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn symbolisierend - während es sich bei Franz Ferdinand Trotta um den Abkömmling eines parallelen Familienzweigs handelte.

Joseph Roths Intention für „Die Kapuzinergruft“ lag nahe. Nachdem er nach dem Ende des 1.Weltkriegs schon einmal den Niedergang seiner Heimat erleben musste – der Autor wurde 1894 in Brody geboren, damals zu Österreich-Ungarn gehörend, ab 1919 polnisch und heute in der westlichen Ukraine liegend – wiederholte sich die Geschichte wenig später. Österreich wurde Teil des großdeutschen Reiches und vollendete damit den Untergang einer Epoche. Der 1.Weltkrieg steht am Anfang dieses Endes, weshalb Schaafs Film mit dessen Ausbruch beginnt, den er mit einer großartig geschnittenen Szene akustisch und optisch erfahrbar werden lässt. Während ein Offizier mit schneidender Stimme die Notwendigkeit der Kampfhandlungen nach einer langen Phase des Friedens herausschreit, unterbricht der Film dessen Rede staccatoartig mit feiernden Jung-Offizieren, die sich gegenseitig zuprosten. Die Szene endet mit dem dissonanten Klang ihrer zusammenstoßenden Gläser. Ein noch mehrfach im Film erklingender Ton, zu dem Schaaf jeweils die Handlung symbolisch einfrieren lässt – eine wegen ihrer markanten Eigenständigkeit in Erinnerung bleibende, sehr gelungene filmästhetische Umsetzung.

Einen Augenblick lang, kurz vor dieser Szene gönnt der Regisseur dem Film einen einzigen spielerisch ausgelassenen Moment, den er im Gellért-Bad in Budapest aufnahm. Dessen homoerotische Attitüde mit den sich balgenden jungen Offizieren vermittelt einen letzten melancholischen Blick auf eine vergangene Zeit. Dagegen strahlen die hektischen Feierlichkeiten, mit denen viele Soldaten vor ihrem Einsatz an der Front noch schnell ihre Hochzeit begehen, nur wenig Freude aus. Die Hochzeitsnacht von Trotta misslingt entsprechend, da dessen alter Hausdiener einen Infarkt erleidet. Seine frisch vermählte Ehefrau Elisabeth (Doris Kunstmann) verlässt ihren Mann noch in derselben Nacht, da dieser nicht bei ihr weilt. In der ursprünglichen Drehbuchfassung spielte der 1.Weltkrieg noch eine wesentliche Rolle. Nicht hinsichtlich irgendwelcher Kampfhandlungen – Joseph Roth und in Konsequenz daraus auch Johannes Schaaf verzichteten auf jede Form des Aktionismus – sondern in der Beschreibung der langjährigen russischen Kriegsgefangenschaft, in die Trotta gerät. Schaaf folgte dem Rat Maximilian Schells, mit dem er das Drehbuch überarbeitete, auf die Kriegsphase zu verzichten, und blendete vom Hurra-patriotischen Beginn unmittelbar zur Ankunft der nach dem Krieg demoralisierten Soldaten über.

Diese Entscheidung war konsequent, denn „Trotta“ unterscheidet sich besonders durch den Verzicht auf vertraute Klischees, erklärende Details und eine zugespitzte Dramatik von typischen Historien- oder Romanverfilmungen, der dem Film trotz des offenkundigen historischen Bezugs eine bis heute spürbare Zeitlosigkeit verleiht. Nicht die tatsächlichen Ereignisse spiegeln den Niedergang wider, sondern die Figur des „Trotta“, in dessen hübschem Gesicht sich Sympathie, Passivität und Hilflosigkeit vereinen. Trotta bleibt immer freundlich, zuvorkommend und geduldig – selbst der unschöne Geschlechtsakt mit der ihm überlegenen, kalkulierenden Elisabeth wirkt mehr ungeschickt als erzwungen – während um ihn herum die ihm bekannte Welt zusammenbricht. Damit gelang Johannes Schaaf der Spagat zu der damaligen, sich ebenfalls im Umbruch befindenden Gegenwart. Viele Figuren – der Traditionalist, der Proletarier, der Kommunist – ließen sich problemlos in die Entstehungszeit des Films transportieren, aber besonders Rosemarie Fendel als Almarin verkörperte sowohl optisch, als auch in ihrem selbstbewussten, emanzipierten, ihre lesbische Liebe offen lebenden Auftreten beide Phasen ideal.

Während sie die richtigen Schlüsse aus den Veränderungen zieht, verschwindet Trotta einfach, nicht einmal fähig, sein Leben selbst zu beenden – zurück bleibt ein Film, der aufs trefflichste Geschichte und Gegenwart vereinte und damit seine Wirkung bis heute nicht verlor.

"Trotta" Deutschland 1971, Regie: Johannes Schaaf, Drehbuch: Johannes Schaaf, Maximilian Schell, Joseph Roth (Roman), Darsteller : András Bálint, Rosemarie Fendel, Doris Kunstmann, Elma Bulla, Tamás Major, Heinrich Schweiger, Laufzeit : 92 Minuten 

weitere im Blog besprochene Filme von Johannes Schaaf: