Inhalt: Das Schuljahr in Schloss Heiligenstadt, einem abseits
in den bayerischen Bergen gelegenen Jungen-Internat, beginnt. Unter der Leitung
vom Professor (Friedrich Domin) erwartet die Jungen – Halbwaisen oder Söhne
geschiedener Eltern - ein Leben ungezwungenen Lernens und großer Freiheiten. Innerhalb
der Schülerschaft existieren Hierarchien. Es gibt die älteren Schüler wie
Manfred (Udo Vioff), die eine Aufsichtspflicht ausüben, oder „Klein-Felix“
(Michael Ende), den Jüngsten, der von Niemandem ernst genommen wird. Für sehr
stark hält sich die "Räuber-Bande" um ihren Hauptmann Alexis (Michael Verhoeven),
die ihre Mitglieder nach strengen Kriterien auswählt und martialische Regeln
pflegt.
Sie alle werden konfrontiert mit einem Neuankömmling, der
sich nicht einordnen lässt. Vincent (Horst Buchholz) erhält schon bald den
respektvollen Namen „Argentinier“, weil er in der südamerikanischen Pampa groß
geworden ist und einen übernatürlichen Zugang zu allen Tieren besitzt. Obwohl
sie ihm misstrauen, sind sie gleichzeitig von seiner Ausstrahlung fasziniert,
weshalb die "Räuber-Bande" ihn als Mitglied aufnehmen will. Er soll ihnen helfen,
in das geheimnisvolle Haus mit den geschlossenen Fenstern auf der anderen Seite
des Sees einzudringen – eine Reise ins Unbekannte…
"Marianne" hatte ich zuvor noch nie gesehen, aber der Film war mir bei meinen Recherchen über den Heimatfilm, Marianne Hold oder Horst Buchholz schon früh aufgefallen. Das Wenige, was ich darüber fand, machte mich neugierig und weckte Erwartungen - nur gab es kein Herankommen an den Film. Entsprechend groß war meine Freude, dass die PIDAX ihn am 15.04.2016 erstmals auf DVD herausbrachte.
Und meine Erwartungen wurden mehr als erfüllt. Wiederholt stellte sich heraus, dass gerade die Filme, die trotz prominenter Besetzung und populärer Thematik schnell in Vergessenheit gerieten, von außergewöhnlicher Qualität sind. Der Versuch dem Originatlitel "Marianne" mit der Hinzufügung "meine Jugendliebe" mehr Publikumsaffinität zu verleihen, zeugt von der Hilflosigkeit gegenüber einem Film, der sich einfachen Zuordnung entzieht. "Meine Jugendliebe" klingt viel zu prosaisch gemessen an den Emotionen und der Fantasie, die Julien Duvivier und Autor Peter von Mendelssohn hier visualisierten. (Die grünen Links führen zur Amazon-Bestellseite).
Es gibt Filme, die wirken aus der Zeit gefallen - altmodisch
oder ihr weit voraus. Und es gibt Filme, die nicht zum Werk eines Künstlers zu
passen scheinen, weshalb sie schnell ausgeklammert werden. Oder der umgekehrte
Fall tritt ein: sehr typisch, nur im Detail abweichend und damit auch gegen die
geweckte Erwartungshaltung verstoßend. Und es gibt Filme, die zwar populäre
Genres bedienen, diese aber so miteinander kombinieren, dass sie sich nicht mehr
einordnen lassen. Oder welche, die einen hohen künstlerischen, quasi
literarischen Anspruch erheben, gleichzeitig von einfachem, leicht
verständlichem Zuschnitt bleiben. Auf "Marianne" treffen alle diese
Kriterien zu.
Das beginnt bei den Mitwirkenden, deren Namen heute zwar
nicht mehr geläufig sind, deren Schaffen aber bis in die Gegenwart populär geblieben
ist. Obwohl er seit frühen Stummfilmzeiten in mehr als 70 Filmen hinter dem
Regie-Pult stand, ist der französische Regisseur Julien Duvivier in Deutschland
nahezu unbekannt, von den zwei ersten 1952 und 1953 entstandenen „Don Camillo
und Peppone“- Filmen hat dagegen beinahe Jeder schon gehört. Für internationale
Co-Produktionen wie diese wurde Duvivier häufig engagiert, auch mit deutschen
Filmschaffenden arbeitete er mehrfach zusammen. Hildegard Knef spielte in „La
fête à Henriette“ (1953) die weibliche Hauptrolle, später übernahm er die Regie
bei „Das kunstseidene Mädchen“ (1960) und seinem letzten Film „Diaboliquement
vôtre“ (Mit teuflischen Grüßen, 1967) - jeweils mit intensiver deutscher Beteiligung.
Die Umstände der Entstehung von „Marianne“ fielen trotzdem aus dem Rahmen.
Die Schaffung zweier Sprachversionen mit unterschiedlicher
Besetzung in tragenden Rollen war im internationalen Film-Business nicht ungewöhnlich,
betonte in „Marianne“ aber noch zusätzlich die enge deutsch-französische
Zusammenarbeit. Das Drehbuch stammte von Peter von Mendelssohn, der seinen
eigenen 1932 veröffentlichten Roman „Schmerzliches Arkadien“ für die Verfilmung
interpretierte. Unterstützt wurde er von dem späteren Regisseur und
Dokumentarfilmer Marcel Ophüls, der wie Von Mendelssohn in Deutschland geboren
wurde und vor den Nationalsozialisten nach Frankreich flüchtete. Peter von Mendelssohn kehrte als britischer Staatsbürger nach dem Krieg wieder nach
Deutschland zurück, Marcel Ophüls blieb bis heute ein Wanderer zwischen
Frankreich und Deutschland. Auch der Filmtitel „Marianne“ besitzt eine
übergreifende Bedeutung, denn die „Marianne“ gilt in Frankreich seit der
„Französischen Revolution“ als nationales Symbol der Freiheit – jedes Rathaus
besitzt eine „Marianne“-Büste.
Trotzdem lässt sich die Gewichtung einer deutschen
Charakteristik nicht übersehen. Die Kulisse von Hohenschwangau mit dem eine
zentrale Rolle spielenden Alpsee stehen symbolisch für die deutsche Romantik, der
Handlungshintergrund des abgelegenen Jungen-Internats Schloss Heiligenstadt in
den bayerischen Alpen war schon Mitte der 50er Jahre von altmodischem
Zuschnitt, die kleinen Geschichten um die Jungen-Bande und ihre
Aufnahme-Rituale erinnern an zeitgenössische Jugendliteratur. Die Bildsprache
schien unmittelbar dem „Heimatfilm“ entnommen, der gerade auf dem Höhepunkt seiner
Popularität angekommen war (siehe den Essay "Im Zenit des Wirtschaftswunders"), aber Duvivier stilisierte den Handlungsraum zu einem
paradiesischen Ideal und hob ihn damit über die Realität – die tatsächliche
geografische Lage spielte keine Rolle. Als Kritik am „Heimatfilm“-Genre war das
nicht zu verstehen, sondern als Abbild eines subjektiven Standpunkts. Alles in
„Marianne“ ist dem eigenen Empfinden untergeordnet. Die Grenze zwischen Ratio
und Fantasie lässt sich nicht ziehen.
Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht von Manfred (Udo
Vioff in seiner ersten Rolle), der selbst nur eine Nebenrolle einnimmt, als
Freund von Vincent (Horst Buchholz) aber von dessen Erlebnissen in dem
geheimnisvollen Schloss am anderen Ende des Sees erfährt. Der Film nimmt auf
diese Weise eine doppelte subjektive Perspektive ein. Nur so lässt sich die
Figur des „Argentiniers“ verstehen, wie die anderen Jungen den Neuankömmling
Vincent nennen, da er in Südamerika aufwuchs. Mit ihm stößt etwas Neuartiges
und Fremdes in die Idylle. Eine ideale Rolle für Horst Buchholz (in der
deutschsprachigen Version), der ein Jahr später als „deutscher James Dean“ in
„Die Halbstarken“ (1956) zum Star aufsteigen sollte. Die Verkörperung des
Vincent besitzt schon viel von dem Rebell, für den Buchholz berühmt wurde, aber
sein Einfluss kommt hier von Innen, nach Außen ist Vincent von fast
übernatürlicher Freundlichkeit und Ehrlichkeit.
Betont wird dieser Eindruck noch durch seinen Umgang mit den
Tieren des Waldes, die ihm bedingungslos vertrauen, oder seiner Beziehung zu
dem jüngsten Schüler Felix (Michael Ande), der von den Anderen als „Klein-Felix“
ausgegrenzt wird. Dank seines emotionalen Überschwangs und seines Muts zum Irrationalen,
nahm Buchholz dieser Figur gleichzeitig wieder die Künstlichkeit und verlieh
ihr eine menschliche Dimension. Genauer, eine männliche Dimension, denn Peter von Mendelssohn erzählte autobiografisch gefärbt die so schöne, wie schmerzliche
Erfahrung des Heranwachsenden von der ersten großen Liebe. Ihm gelang in seiner
einzigen Filmarbeit der Spagat zwischen Historie und Gegenwart, zwischen authentischen
Gefühlen und einer ins Künstliche gesteigerten Stilisierung. Die Frau existiert
hier nur in zwei charakteristischen Versionen – als geheimnisvolle
jungfräuliche Schönheit und als sexuell forderndes Wesen, oszillierend zwischen
Wunsch- und Alptraum des Mannes.
Die französische Schauspielerin Isabelle Pia spielte die
jugendliche Liselotte, die als einziges Mädchen ausnahmsweise auf dem
Jungen-Internat unterrichtet wird. Sie ist pure Perfektion. Kühl und blond gibt
sie im Innenhof des Schlosses ein Klavierkonzert. Ein Auftritt, der ihr unter ihren
männlichen Mitschülern Respekt, aber keine Sympathien einbringt. Anders als Vincent,
der zur Gitarre ein melancholisches südamerikanisches Lied singt. Sie begehrt ihn
und macht aus ihren Gefühlen kein Geheimnis. Nackt bietet sie sich ihm an,
konkret von Duvivier ins Bild gesetzt. Vincent weist sie zurück, aber es ist
weniger eine klare Haltung, mehr ein Zurückschrecken vor ihrer direkten
Sexualität. Als sie sich rächt, indem sie sein geliebtes Rehkitz tötet, schlägt
er sie verzweifelt - für ihren Tod sorgen die Tiere selbst.
Auch die Aura um „Marianne“ ist ehrfurchtgebietend, aber es
ist die Art von Gefahr, deren Überwindung einen Mann zum Helden werden lässt.
Die selbsternannte „Räuber-Bande“ um ihren Anführer Alexis (Michael Verhoeven)
und Vincents Zimmerkameraden Jan (Peter Vogel) plante schon lange, dem
geheimnisvollen Schloss auf der anderen Seite des Sees einen Besuch
abzustatten. Obwohl sie Vincent misstrauen, nehmen sie seine Hilfe an, lassen
ihn aber bei ihrer Flucht allein zurück. Erst in den frühen Morgenstunden kehrt
er zurück, begleitet von einem verheerenden Sturm. Er ist vollkommen verändert,
fast paralysiert, denn er hat Marianne (Marianne Hold) kennengelernt, die von
dem alten Schlossbesitzer und dessen brutalen Diener (Ady Berber) gegen ihren
Wille festgehalten wird. So zumindest ist es aus den Worten Vincents zu
vernehmen, denn einen Beweis für ihre Existenz gibt es nicht.
Marianne Holds Verkörperung einer unschuldigen Schönheit
prädestinierte sie im „Heimatfilm“ zum Objekt der Begierde. Als „Fischerin vom Bodensee“ erlebte sie 1956 ihren endgültigen Durchbruch, wurde aber schon seit
Luis Trenkers „Barriera a Settentrione“ (Duell in den Bergen, 1950) wiederholt
in der Rolle einer bodenständigen jungen Frau besetzt, deren Eroberung zu einer
Herausforderung für den männlichen Protagonisten wurde. Ihr Typus war so eng
mit dem „Heimatfilm“- Genre verbunden, dass sie nach dessen Niedergang Anfang
der 60er Jahre - obwohl erst Anfang 30 - keine Chance mehr im Film erhielt.
1964 spielte sie ihre letzte Rolle im Karl-May-Film „Der Schut“.
Ihre Besetzung in der Rolle der „Marianne“ war ein
Glücksfall, lässt aber gleichzeitig deutlich werden, warum Duviviers Film im Gegensatz
zu Marianne Holds parallel erschienenen Heimatfilmen schnell in Vergessenheit
geriet. Die große Liebe wurde im Heimatfilm zum erreichbaren Ideal, in Von Mendelssohns
Roman blieb sie eine unerreichbare Fantasie. So beglückend wie schmerzlich, so
real wie irreal – und so zerrissen und schön wie dieser Film.
weitere im Blog "L'amore in città" besprochene Filme von Julien Duvivier:
"Don Camillo" (1952)
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