Inhalt: Dr.
Jan Diffring (Curd Jürgens) praktiziert als Arzt an der Reeperbahn und besitzt
das volle Vertrauen der hier arbeitenden und lebenden Menschen. Niemals würde
er der Polizei Informationen geben und wegsehen, wenn sich Jemand in Not befindet.
Als er in den frühen Morgenstunden mit seiner Arzttasche auf der Reeperbahn
unterwegs ist, kommt er einer jungen Frau zu Hilfe, die von ein paar Männern
zusammen geschlagen wird.
Er ahnt
nicht, dass dieser Überfall im Zusammenhang mit Sex-Partys steht, die für eine
Klientel reicher Geschäftsmänner veranstaltet wird und an der sein Bruder Klaus
(Horst Naumann) beteiligt ist. Obwohl dieser als Gynäkologe in einem wohl
situierten Hamburger Stadtteil arbeitet, hat er hohe Schulden und ist
gezwungen, reiche verheiratete Damen, die bei ihm eine ungewollte
Schwangerschaft beseitigen lassen wollen, für diese Partys gefügig zu machen.
Unfreiwilligen Kontakt zu diesen Vorkommnissen erhält Jan Diffring, als sich
der Seemann Hein (Fritz Wepper) an ihn wendet, um Informationen über seine
Verlobte Margot (Christiane Rücker) zu erhalten, die nach seiner Rückkehr
verschwunden ist. Er weiß nicht, dass Margot kräftig bei den Partys mitmischt…
Die
Faszination des am Hamburger Überseehafen gelegenen Stadtteils St. Pauli als
modernem Sündenbabel entstand aus dessen extremen Kontrast zum konservativen,
stark regulierten Bürgertum in Deutschland. St. Pauli, genauer die Reeperbahn,
wurde zum Synonym für den ausschweifenden Umgang mit Sex, Alkohol, Drogen und
Gewalt und symbolisierte gleichzeitig Abgrund, Freiheit und Widerstand. Dieser
Hintergrund ermöglichte Helmut Käutner in die "Große Freiheit Nr.7"
(1944) eine authentische Geschichte von Menschen zu erzählen, die nicht nach
den Vorstellungen der damaligen Machthaber handelten. Selbst harmlose
Unterhaltungsfilme wie das späte Heinz Rühmann / Hans Albers -Vehikel "Auf
der Reeperbahn nachts um halb eins" (1954) erhielten dadurch noch ein
wenig Tragik und Realitätsbezug.
Auch
international besaß St. Pauli den Ruf eines Ortes der Extreme. In "La
fille de Hambourg" (Das Mädchen aus Hamburg, 1958) - nach dem ersten
Drehbuch des Erotik-Pioniers José Bénazéraf - arbeitet die Protagonistin auf
der „sündigen Meile“ und für Francesco Rosi war diese so glitzernde, wie
unberechenbare Welt der geeignete Ausgangspunkt für sein Gastarbeiter-Drama
"I magliari" (Auf St. Pauli ist die Hölle los, 1959). Parallel schuf
der gebürtige Hamburger Jürgen Roland mit seinen in einem dokumentarischen Stil
gehaltenen Kriminalfilmen ein realistisches Bild des Lebens an den
Landungsbrücken. Mit der nach einem Drehbuch Wolfgang Menges entstandenen
Fernsehserie "Stahlnetz" (ab 1958), dem exemplarischen
"Polizeirevier Davidswache" (1964) und "4 Schlüssel" (1965)
bereitete er den Boden für einen Mitte der 60er Jahre eintretenden
St.Pauli-Trend. Die dort vorhandene untrennbare Einheit aus "Sex and
Crime" erwies sich im Film als ideal für Tabubrüche im aufkommenden
Erotik- und Exploitation-Genre.
Entsprechend
ließ José Bénazéraf seinen einzigen deutschen Film "St.Pauli zwischen Nacht und Morgen" (1967) vor der Hamburger Kulisse spielen und der
österreichische Regisseur Rolf Olsen drehte nach "Wenn es Nacht wird auf
der Reeperbahn" (1967) noch fünf weitere St. Pauli-Filme bis zu
"Käpt'n Rauhbein aus St. Pauli" (1971), die jeweils auf Basis eines
selbst verfassten Drehbuchs entstanden. "Der Arzt von St. Pauli"
folgte 1968 zwar als zweiter Film, steht aber für den eigentlichen Beginn der
"Serie", da Curd Jürgens ab diesem jeweils die Hauptrolle übernahm. Neben
Jürgens gehörten Heinz Reincke (5mal) als einfacher Kerl aus dem Milieu mit dem
Herzen auf dem rechten Fleck, und Fritz Wepper (3mal) als junger, manchmal über
die Strenge schlagender, aber grundanständiger Love-Interest für wechselnde
hübsche Damen zum festen Bestandteil des Casts. Von den weiblichen Darstellern
durfte einzig Christiane Rücker - seit "Die Liebesquelle" (1965) für
ihre freizügigen Rollen bekannt – zweimal ihren Körper demonstrieren.
Diese
Voraussetzungen lassen schon das Grundgerüst des Olsenschen „St. Pauli –
Panoptikums“ erkennen, das vom Überleben an einem Ort erzählt, der ständige
Versuchungen bereithält – und damit gleichzeitig locken und abschrecken wollte.
„Der Arzt von St. Pauli“ funktioniert in dieser Hinsicht beispielhaft, denn er
erzählt die Geschichte eines gegensätzlichen Brüderpaars, beide Mitte 50, die
die jeweilige Seite repräsentieren. Während Dr. Jan Diffring (Curd Jürgens)
direkt an der Reeperbahn praktiziert und sich auch unentgeltlich der
Prostituierten und Alkoholkranken annimmt, residiert sein Bruder (Horst
Naumann) als Gynäkologe in einem mondänen Hamburger Stadtteil. Olsen scheute
keine gängigen Klischees in der Gegenüberstellung eines engagierten Arztes und
eines reichen, hoch verschuldeten Schnösels, der gut aussehende Damen aus reichem
Hause, die sich zwecks einer Abtreibung an ihn wenden, gegen Bezahlung für
Partys unter Geschäftskollegen sexuell gefügig macht. Die moralische Dimension
lag klar auf der Hand - hier die einfachen, trotz ihrer zwielichtigen
Profession als Prostituierte, Boxer oder Bar-Keeper, grundanständigen Menschen,
dort die nach außen moralischen Anstand verkörpernden Großbürger, die Andere
für ihre Vergnügungssucht ausbeuten - eine explosive Mischung, die Olsen,
begleitet von erotischen Einlagen, zu ordentlichen Gewaltexzessen nutzte.
Hinsichtlich
der einzelnen Charakterisierungen blieben einige Fragen offen, so lange sich
die Protagonisten wie Rädchen in das Geschehen fügten. Die von Christiane
Rücker gespielte Margot arbeitet als Animier-Mädchen bei den Partys der
besseren Herren, verfolgt aber eigene Ziele, in dem sie die unter Drogen
gesetzten Damen mit Fotos erpresst. Für die Organisatoren ein Ärgernis, das
sich als tödlich für Margot herausstellt. Als ihr Mörder gerät der gerade in
seinem Heimathafen eingetroffene Seemann Hein (Fritz Wepper) in Verdacht, der
seit zwei Jahren mit ihr verlobt war und wenig begeistert darauf reagiert, dass
sie plötzlich mit einem anderen Mann zusammenlebt und keine Lust mehr auf
bescheidene Lebensverhältnisse hat. Wie es zu ihrer rigorosen Veränderung
kommen konnte, lässt der Film ebenso offen, wie die Vergangenheit der beiden so
unterschiedlichen Ärzte-Brüder. Jan Diffring erwähnt, dass es schon einmal zehn
Jahre gedauert hätte, bis der Staat begriffen hätte, dass er nur seine Pflicht
getan hätte (wie jetzt seine Pflicht als Mensch und Arzt). Das weist zumindest
auf einen Bruch in seinem Lebenslauf hin, ohne die Zusammenhänge näher zu
erläutern.
Trotz des
Molochs aus Sex und Gewalt, den Rolf Olsen abwechslungsreich und spektakulär vor
seinem Publikum ausbreitete, wurden gewisse Konzessionen eingehalten. Dieter
Borsche spielt einen verständnisvollen, tief im Milieu verwurzelten Pfarrer,
der immer ein Auge auf seine schwarzen Schäfchen hat - eine Rolle die er in
„Der Pfarrer von St. Pauli“ nochmals interpretierte – und sowohl Seemann Hein
bekommt zum Schluss ein anständiges Mädchen (Marianne Hoffmann) als Verlobte an
die Seite gestellt, als auch Boxer Willi (Heinz Reincke) darf in den Hafen der
Ehe mit einer Prostituierten einfahren. Trotzdem blieb Olsen dem St. Pauli -
Image treu und vermied weitere Annäherungen an bürgerliche Positionen, wobei er
neben dem lokalen Hintergrund vor allem vom Spiel Curd Jürgens profitierte, dem
es gelang, die Rolle des Arztes zwischen Fatalismus und bärbeißigem Samaritertum
anzusiedeln.
"Der Arzt von St. Pauli" Deutschland 1968, Regie: Rolf Olsen, Drehbuch: Rolf Olsen, Darsteller : Curd Jürgens, Horst Naumann, Heinz Reincke, Fritz Wepper, Christiane Rücker, Dieter Borsche, Laufzeit : 96 Minuten
weitere im Blog besprochene Filme von Rolf Olsen:
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