Inhalt:
1913 – in Neustadt, einem kleinen Ort in der Provinz, steht ein großes Ereignis
bevor. Zur Einweihung des Völkerschlachtdenkmals soll ein Ballonfahrer nach
Leipzig fliegen, um Kaiser Wilhelm II. die Ehre zu erweisen. Alle Bürger und
Honoratioren der Stadt sind auf dem Feld angetreten, um dem Ballonfahrer die
Ehre zu erweisen, nur die ledige Mutter von fünf Kindern, Mary Meisenfeld
(Elisabeth Flickenschild), die am Rand des Felds in ihrem Wagen lebt, stört und
wird von der Polizei entfernt. Allerdings haben auch die beiden Jungs Hans
Boeckler und Bruno Tiches Unsinn im Kopf, doch während Hans erwischt und
bestraft wird, gelingt es Bruno ungesehen in den Korb des Ballons zu klettern.
Als dieser nur wenige hundert Meter entfernt wieder notlanden muss, ist die
Angelegenheit so peinlich, dass Bruno ungestraft in der Schulklasse von seinen
Erlebnissen mit Kaiser Wilhelm berichten darf.
Dieses
Ereignis ist signifikant für den weiteren Lebensweg von Hans Boeckler (Hansjörg
Felmy) und Bruno Tiches (Robert Graf), denn während Boeckler in den 20er Jahren
unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen Philosophie in München studiert,
macht Tiches Karriere bei der NSDAP…
Nach seinem
großen Erfolg mit "Das Wirtshaus im Spessart", der Anfang 1958 in die
Kinos gekommen war und Kurt Hoffmann die Gelegenheit gegeben hatte, hinter dem
neckischen Treiben der Räuber satirische Spitzen auf Land und Leute
loszulassen, nahm er sich mit der Romanvorlage "Wir Wunderkinder" von
Hugo Harting einen deutlich kritischeren Stoff vor. Harting, dessen Roman
"Ich denke of an Piroschka" Hoffmann 1955 ebenfalls verfilmt hatte,
erzählt darin parallel zwei deutsche Lebensläufe, beginnend 1913 kurz vor dem
Beginn der 1.Weltkriegs, noch zur Zeit Kaiser Wilhelms II., bis Mitte der 50er
Jahre in der jungen Bundesrepublik Deutschland, die gerade die
"Wirtschaftswunderjahre" erlebte.
Schon die
erste Szene ist symptomatisch für die zukünftige Entwicklung der beiden
Protagonisten - während der Knabe Hans Boeckel beim Start einer Ballonfahrt zur
100-Jahr-Feier der Völkerschlacht bei Leipzig wegen ungebührlichen Benehmens zu
Strafarbeiten verdonnert wird, wird sein Klassenkamerad Bruno Tiches zum
gefeierten Helden, weil der Ballon, in dessen Korb er verbotenerweise
geklettert war, schon nach wenigen hundert Metern notlanden musste. Eine
peinliche Angelegenheit für den Ballonfahrer und die Honoratioren der Stadt,
weshalb Brunos schöne Geschichten von seinem persönlichen Empfang bei Kaiser
Wilhelm II. erfolgreich die Runde machen dürfen. Dieses Geschick beweist Bruno
Tiches (Robert Graf) auch in seiner weiteren Karriere - ist er nach dem Ende
des 1.Weltkriegs noch beflissener Angestellter des örtlichen Bankhauses, dem
potentesten Arbeitgeber der Kleinstadt, will er Mitte der 20er Jahre nichts
mehr mit seinen jüdischen Arbeitgebern zu tun haben und geht nach München, um
sich der NSDAP anzuschließen.
Dort trifft
er auch wieder auf Hans Boeckel (Hansjörg Felmy), der in München Philosophie
studiert. Doch damit enden die Parallelen, denn während Boeckel nach der
Machtergreifung der NSDAP 1933 seinen Job als Feuilletonist bei der Zeitung
verliert, macht Tiches Partei-Karriere. Boeckel bittet ihn erstmals um Hilfe,
aber als dieser von ihm verlangt, Parteimitglied zu werden, bekennt er Farbe
und lehnt ab - mit der Konsequenz, dass
er nur noch im Lager arbeiten darf. Nach dem 2. Weltkrieg begegnen sie sich
zufällig wieder, um festzustellen, dass sich an ihren Rollen nichts geändert
hat. Boeckel versucht noch mit Tauschhandel Nahrung für seine Familie aufzutreiben,
während Tichel unter geändertem Namen schon zum erfolgreichen Geschäftsmann
mutiert ist, der vom Schwarzmarkt profitiert - die Basis für seinen kommenden
Reichtum und damit Einfluss und hohes Ansehen in der Bundesrepublik Deutschland
wird gelegt.
Mit Bruno
Tiches verkörperte Robert Graf überzeugend einen Typus, der der Realität sehr
nahe kam. Er benötigte dafür nur wenige satirische Spitzen, denn Tiches ist
kein Fanatiker, sondern ein Opportunist, der ein Gespür für den eigenen Vorteil
hat. Sein Charakter lässt deutlich werden, dass Anpassungsfähigkeit und
positive Selbstdarstellung die wichtigsten Voraussetzungen für Erfolg sind.
Eine bis heute gültige Regel, die nach dem 2.Weltkrieg besonders eklatant
verdeutlichte, dass es zu keinem Bruch gekommen war, sondern das Diejenigen,
die zuvor schon das Sagen hatten, auch danach über den größten Einfluss
verfügten - notfalls indem sie ihren Namen und ihre Historie änderten. Der
Dialog zwischen Tiches und Boeckel nach dem Krieg ist in dieser Hinsicht aufschlussreich.
Wieder stilisiert sich Tiches zu einem Mann hoch, der erneut den Karren für
Deutschland "aus dem Dreck zieht", wie er es auch schon in den 30er
Jahren formulierte, und Boeckels damalige Ablehnung der Nationalsozialisten ist
für ihn nur ein Anzeichen für dessen Unfähigkeit, sich klar zu
positionieren - wie üblich solche
Argumentationen in der Nachkriegszeit gewesen sind, lässt sich leicht vorstellen.
Die Figur
des Hans Boeckel ist dagegen idealisierter angelegt, auch wenn sich Felmy Mühe
gab, eine gewisse Tatenlosigkeit auszustrahlen. Selbst das Schicksal geliebter
und befreundeter Menschen - seine erste Freundin Vera (Wera von Frydtberg), auf
die er jahrelang gewartet hatte, da sie ihre Lungenkrankheit in der Schweiz
auskurieren musste, geht zu ihrem Vater nach Paris, und auch seinem früheren
Klassenkameraden Siegfried Stein (Pinkas Braun), Sohn des jüdischen Bankiers
seiner Heimatstadt, gelingt gerade noch rechtzeitig die Flucht - lässt ihn
lange Zeit nicht erkennen, welche Gefahren von den Nationalsozialisten
ausgehen. Er, der Ende der 20er Jahre seinen Doktor in Philosophie machte, hielt
sie für eine vorübergehende Erscheinung und seine abschließende Aussage, mit "Tinte kann man kein brennendes Haus löschen" gab ihm Absolution. Denn abgesehen von dieser
Passivität, ist Boeckel ein hehrer Charakter, der sich nicht einmal von der süßen
Dänin Kirsten (Johanna von Koczian) an Silvester in Versuchung bringen lässt,
da er noch mit Vera verlobt ist, die er schon seit Jahren nicht mehr gesehen
hatte. Erst als diese Beziehung geklärt ist, läuten die Hochzeitsglocken für
ihn und Kirsten in Dänemark, auch wenn sie sich dafür gegen ihre Familie
durchsetzen muss, die dem deutschen Bräutigam skeptisch gegenüber steht.
Die
Konfrontation zwischen dem armen Schlucker Hans Boeckel und dem erfolgreichen
Bruno Tiches konnte so abgeschwächt werden, denn während Boeckel über eine
glückliche Familie mit zwei kleinen Kindern verfügt, lebt Tiches in
unmoralischen Verhältnissen. Geschieden von seiner ersten Frau Evelyne
Meisegeier (Ingrid van Bergen) hat er sich längst eine Jüngere zugelegt. Die
gesamte Konstellation um die ledige Mutter von fünf Kindern, Mary Meisegeier
(Elisabeth Flickenschild), die zu Zeiten Wilhelm II. noch als
"Zigeunerin" abgelehnt wurde, dann als Schwiegermutter zu Tiches
Entourage gehörte, um nach dem Krieg nach Argentinien "auszuwandern",
atmet noch den Zeitgeist der 50er Jahre - zwar ironisierte der Film damit die Verlogenheit der Nationalsozialisten hinsichtlich deren Standards
von Moral und Rassenideologie, bediente damit aber gleichzeitig bestehende
Vorurteile. Autor Hugo Hartung sah in Familie Meisegeier, die sich vom
Außenseiter zum glühenden Nazi wandelte (der Sohn der Familie lässt von Beginn
an keinen Zweifel an seinem Antisemitismus), noch Potential, erkennbar an
seinem letzten 1971 erschienenen Roman mit dem Titel "Wir Meisegeiers -
der Wunderkinder 2.Teil".
Wie gewohnt
von Kurt Hoffmann schwungvoll und unterhaltsam inszeniert, käme "Wir
Wunderkinder" über einen nur latent kritischen Film nicht hinaus, gäbe es
nicht die beiden Kabarettisten Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller, mit denen er
erstmals in "Das Wirtshaus im Spessart" zusammen gearbeitet hatte.
Sie zeigen "Wir Wunderkinder" als "Film im Film", den sie
von einer Bühne aus mit Kommentaren und Klaviermusik begleiten. Die Konzessionen,
zu denen der Film in den 50ern noch gezwungen war, werden von ihnen deftig und
unmissverständlich unterlaufen - wenn Bruno Tiches am Ende in einen
Fahrstuhlschacht fällt und stirbt, dann enthebt Wolfgang Müller dieses
scheinbare "Happy-End" gleich wieder. Während der Film die Bilder einer
Beerdigung zeigt, zu der alle einflussreichen Persönlichkeiten aufmarschiert
sind, um dem „verdienten Deutschen“ Tiches die letzte Ehre zu erweisen, erwähnt
er, dass es so viele kaputte Fahrstühle nicht gibt, die angesichts der anderen "Tiches" repariert werden müssten - Kurt Hoffmann war nie kritischer als in „Wir Wunderkinder“,
aber trotz des Gewinns eines "Golden Globes" als bester fremdsprachiger
Film gehört er bis heute zu seinen weniger bekannten Werken.
"Wir Wunderkinder" Deutschland 1958, Regie: Kurt Hoffmann, Drehbuch: Eberhard Keindorff, Johanna Sibelius, Annemarie Selinko (Roman), Darsteller : Hansjörg Felmy, Johanna von Koczian, Robert Graf, Wera Frydtberg, Elisabeth Flickenschildt, Lina Carstens, Ingrid van Bergen, Ralf Wolter, Laufzeit : 103 Minuten
weitere im Blog besprochene Filme von Kurt Hoffmann:
"Quax, der Bruchpilot" (1941)
"Ich denke oft an Piroschka" (1955)
"Heute heiratet mein Mann" (1956)
"Das Wirtshaus im Spessart" (1958)
"Das Spukschloss im Spessart" (1960)
"Schloss Gripsholm" (1963)
"Herrliche Zeiten im Spessart" (1967)
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