Mittwoch, 28. Mai 2014

Und Jimmy ging zum Regenbogen (1971) Alfred Vohrer

Inhalt: Manuel Aranda (Alain Noury) landet in Wien, um die Leiche seines ermordeten Vaters zu überführen, ahnt aber nicht, dass er seit seiner Ankunft beobachtet wird. Ein Profi-Killer wurde auf ihn angesetzt, der verhindern soll, dass Aranda zu viel über die Hintergründe des Todes seines Vaters erfährt. Der junge Mann hat viele Fragen, denn er begreift nicht, warum dieser von einer alten Frau getötet wurde, die danach mit einer Zyankali-Kapsel Selbstmord beging.

Für die Polizei scheint die Angelegenheit geklärt, weshalb er auf eigene Faust auf Spurensuche geht. Als er am Grab der Mörderin Valerie Steinfeld (Ruth Leuwerik) erstmals deren Nichte Irene Waldegg (Doris Kunstmann) begegnet, ist schon das Gewehr des Killers auf ihn gerichtet, aber bevor dieser abdrücken kann, wird er selbst durch einen gezielten Schuss getötet – ein Vorgang, von dem Manuel Aranda nichts erfährt. Offensichtlich gibt es Interessenten, die nichts gegen seine Nachforschungen haben, sondern sich Vorteile davon versprechen…


Die Simmel-Offensive der frühen 70er Jahre

Zwar gelang dem österreichischen Journalisten und Schriftsteller Johannes Mario Simmel mit seinem Roman "Es muss nicht immer Kaviar sein" schon 1960 ein großer Erfolg, der es auch zu einer zeitnahen Verfilmung mit O.W. Fischer in der Hauptrolle brachte, aber erst Regisseur Alfred Vohrer begann 1971, nach seinem Abschied von dem Edgar-Wallace-Franchise mit "Der Mann mit dem Glasauge" (1969), mit sieben innerhalb von drei Jahren gedrehten Simmel-Filmen dessen schriftstellerisches Werk umfassend für das Kino zu adaptieren. Gemeinsam mit dem Autor Manfred Purzer, dessen moderner, von den späten 60er Jahren beeinflusster Stil  - sein erstes Drehbuch schrieb er zu "Komm nur, mein liebstes Vögelein" (1968), Regie Rolf Thiele - auch die aus den 50er und 60er Jahren stammenden Romane entsprechend des Publikumsgeschmacks Anfang der 70er Jahre modernisierte.

Nachdem sie zuvor bei "Inspektor Perrack greift ein" (1970) schon einmal erfolgreich zusammengearbeitet hatten, starteten sie die Simmel-Reihe mit dessen aktuellen Beststeller "Und Jimmy ging zum Regenbogen". Der eintretende Erfolg an den Kinokassen zog in schneller Abfolge weitere Verfilmungen nach sich, deren Chronologie zufällig wirkt. "Liebe ist nur ein Wort" (1971) basierte auf einem 1963 erschienenen Roman, "Der Stoff, aus dem die Träume sind" (1972) griff dagegen wieder Simmels neueste Veröffentlichung auf, bevor mit "Und der Regen verwischt jede Spur" (1972) ein Film im "Simmel-Stil" nachgeschoben wurde - eine Methodik, die an die späten Edgar-Wallace-Verfilmungen erinnerte, deren Drehbücher nicht mehr nach den Original-Romanen, sondern im „Wallace-Style“ verfasst wurden. Das Drehbuch dazu erdachte Purzer gemeinsam mit dem französischen Autor Michel Gast („Die Klosterschülerinnen“ (1972)) nach einer Kurzgeschichte von Alexander Puschkin.

Bei den 1973 folgenden Verfilmungen "Alle Menschen werden Brüder" und "Gott schützt die Liebenden“ kamen erneut ältere Romane von 1967 und 1957 zu Ehren, bevor Vohrer nach dem brandneuen Bestseller "Die Antwort kennt nur der Wind" 1974 seinen letzten Beitrag ablieferte. Manfred Purzer schrieb noch das Drehbuch zu dem 1962 erschienenen Roman „Bis zur bitteren Neige“, den der Fernsehregisseur Gert Oswald herausbrachte. Mit dem neunten Film der Simmel-Reihe „Lieb Vaterland magst ruhig sein“ (1976) auf Basis des letzten noch nicht verfilmten Simmel-Romans der 60er Jahre setzte Roland Klick, Regisseur und Autor in Personalunion, den vorläufigen Schlusspunkt.

Dass die seit mehr als 10 Jahren populären Romane Johannes Mario Simmels erst Anfang der 70er Jahre im großen Stil verfilmt wurden, war kein Zufall. Bei dem frühen „Es muss nicht immer Kaviar sein“ handelte es sich um eine gemäßigte Satire auf internationale Gepflogenheiten im Agenten-Milieu, deren Anspielungen nicht wehtaten, aber Simmels bevorzugte, seine eigene jüdische Vergangenheit reflektierende Beschäftigung mit den Verbrechen der Nazi-Zeit und deren mangelhafte Aufarbeitung in der Bundesrepublik nach dem Krieg, benötigte die gesellschaftspolitischen Veränderungen Ende der 60er Jahre, um auch im Kino große Publikumsschichten zu erreichen. Simmel bettete seine dramatischen Hintergründe in einen unterhaltenden Kontext, der ihm zu seinem eigenen Leidwesen über Jahrzehnte den Vorwurf der Trivialität einbrachte, der sich für Vohrer aber als ideal erwies. Erst die dezenten kritischen Aspekte verliehen den meist mit einer Liebesgeschichte verbundenen, publikumswirksam inszenierten Thrillern die notwendige Modernität, um sie aus der Masse herauszuheben, erwiesen sich für die Reputation der Simmel-Romane beim Feuilleton aber als wenig förderlich.


Und Jimmy ging zum Regenbogen

"Und Jimmy ging zum Regenbogen" kann in dieser Hinsicht als prototypisch gelten, denn obwohl sich Vohrers erster Simmel-Film mit der bis heute aktuellen Thematik von Naziverbrechern auseinandersetzte, die nach dem Krieg ein bürgerliches Dasein führen konnten - auch dank der Interessen staatlicher Behörden - blieb er als reiner Unterhaltungsfilm in einer zunehmend verblassenden Erinnerung. Der junge französische Darsteller Alain Noury, der noch in "Und der Regen verwischt jede Spur" von Vohrer in der Hauptrolle besetzt wurde, und die ebenfalls in zwei Simmel-Filmen auftretende Doris Kunstmann verkörperten ein im Stil der frühen 70er Jahre attraktives Paar, deren Annäherung Vohrer mit einer weichgezeichneten Linse und romantischer Musik ins Bild rückte, die die innere Tragik ihrer Begegnung noch betonen sollte. In der Kombination mit den knallharten Interessen der widerstreitenden englischen, französischen und US-amerikanischen Geheimdienste - wie in fast allen Vohrer-Simmel-Verfilmungen mit Herbert Fleischmann als charismatischem Mittelpunkt - entwickelte sich daraus ein Verwirrspiel, das die jeweiligen Motive und inneren Zusammenhänge lange im Ungewissen belässt.

Manuel Aranda (Alain Noury) war nach Wien gekommen, um die Leiche seine Vaters zu überführen, aber die seltsamen Umstände seines Todes - eine alte Bibliothekarin hatte ihn ermordet, um danach mit einer Zyankali-Kapsel Selbstmord zu begehen - lassen ihm keine Ruhe, weshalb er sich gegen den Willen der Behörden um die Aufklärung der näheren Hintergründe bemüht. Schon am Grab der Mörderin Valerie Steinfeld, an dem er deren Nichte Irene Waldegg (Doris Kunstmann) erstmals begegnet, in die er sich sofort verliebt, entgeht er nur knapp und ohne sein Wissen einem Mordanschlag, dessen Hintergründe sich dem Betrachter zu diesem Zeitpunkt nicht erschließen. Denn Aranda hatte mit der gefährlich werdenden Suche nach der Vergangenheit seines Vaters noch nicht begonnen.

In Rückblenden aus der Zeit des Nationalsozialismus beginnt der Film eine parallele Handlung mit Valerie Steinfeld (Ruth Leuwerik) im Zentrum, deren jüdischer Ehemann geflohen ist und deren gemeinsamer Sohn Heinz (Franz Elkins) als Halbjude zunehmend in die Mühlen der Rassenpolitik gerät. Gemeinsam mit dem engagierten Anwalt Dr. Forster (Horst Tappert) versucht Valerie zu beweisen, dass sie ihren Mann betrogen hätte, und ihr Sohn nicht von diesem abstammt. Diese Szenen beeindrucken in der Konfrontation mit einer Gerichtsbarkeit, die über die Wahrheit dieser Schutzbehauptung urteilen soll, und demaskieren die Verlogenheit der rassistischen Argumentation. Besonders das der Halbjude Heinz trotz seiner Benachteiligung ein glühender Nazi ist, der seinen Vater hasst und seinen "Freispruch" sofort zum Eintritt in die Waffen-SS nutzt, bleibt als Symbol für die ideologische Verblendung in Erinnerung.

Diese Szenen verfehlen ihre kritische Wirkung nicht, aber sie gehen in einer mehr als 2stündigen Laufzeit unter, die sich nicht auf die tragischen Konsequenzen der mangelnden Aufarbeitung von Nazi-Verbrechen beschränkte. Als hätte die Begegnung des Sohnes des Ermordeten mit der Nichte der Mörderin nicht genügt, um an Hand einer langsamen Aufklärung der Hintergründe für Spannung zu sorgen, kombinierte Simmel den Plot noch mit Geheimdienstinteressen, chemischen Waffen, Experimenten an Menschen und einer Vielzahl an Nebenschicksalen, die allein einen ganzen Film wert gewesen wären. Judy Winter als Prostituierte und Doppelagentin, sowie Horst Frank als SS-Mann, der sie trotz des Wissens über ihre Rolle verehrt, hätten eine tiefer gehende Betrachtung verdient gehabt, aber angesichts der Fülle an Themen und Schicksalen gelang es dem Film nicht, mehr als ein wenig an der Oberfläche zu kratzen.

Um "Und Johnny ging zum Regenbogen" - ein Zitat, dass zur Entschlüsselung eines Geheim-Codes führt – eine weiter gehende gesellschaftskritische Dimension zuzubilligen, bleibt der Film zu plakativ und klischeehaft. Besonders die Initialzündung der Story - der Grund für den Mord an dem alten Mann - wird zu sehr an den äußeren Umständen festgemacht, so perfide und menschenverachtend diese auch waren. Eine charakterliche Entwicklung der Betroffenen innerhalb von drei Jahrzehnten wurde dagegen nicht in Betracht gezogen. So offensichtlich diese Schwächen sind, sollten sie nicht übersehen lassen, dass nur auf diese Weise der Zugang zu großen Publikumskreisen gelang. Sowohl Simmels Roman, als auch Vohrers filmische Umsetzung spiegeln den Zeitgeist der frühen 70er Jahre nahezu ideal wider, als die noch sehr konservativ geprägte Gesellschaft erst langsam begann, sich der Auseinandersetzung mit ihrer unmittelbaren Vergangenheit zu nähern.

"Und Jimmy ging zum Regenbogen" Deutschland, Österreich 1971, Regie: Alfred Vohrer, Drehbuch: Manfred Purzer, Johannes Mario Simmel (Roman), Darsteller : Alain Noury, Doris Kunstmann, Horst Frank, Horst Tappert, Judy Winter, Ruth Leuwerik, Herbert Fleischmann, Heinz Baumann, Klaus SchwarzkopfLaufzeit : 133 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Alfred Vohrer: 

"Bis dass das Geld euch scheidet" (1960)

Samstag, 17. Mai 2014

Schwarzer Kies (1961) Helmut Käutner

Inhalt: Am Checkpoint zum Armeegelände kommt es zu Wartezeiten für die LKW-Fahrer, die den schwarzen Kies für den Bau einer Landebahn anliefern. Den handgreiflichen Streit zwischen einem deutschen Fahrer und einem Amerikaner nutzt Otto Krahne (Wolfgang Büttner) sofort zur Abstempelung weiterer Lieferscheine an Robert (Helmut Wildt), der damit Kies auf eigene Rechnung verkaufen kann. Ein anderer Fahrer schmeißt einen Stein nach einem bellenden Hund, trifft ihn damit aber so unglücklich, dass dieser tot liegen bleibt. Robert nimmt sich dessen auffälliges Halsband und wirft ihn auf den Kieshaufen, wo der Kadaver zugeschüttet wird.

Nachdem der Wagen ihres Mannes, Major John Gaines (Hans Cossy), liegengeblieben war, lässt sich Inge (Ingmar Zeisberg) von einem LKW-Fahrer mitnehmen, um Hilfe zu holen. Zuerst reagiert sie nicht auf Robert, aber dieser macht kein Geheimnis daraus, dass er sie sofort wieder erkannte. Vor einigen Jahren, kurz nach dem Krieg, waren sie ein Paar - bis sich Inge von ihm trennte, weil sie an der Seite des attraktiven, aber unsteten Mannes keine Zukunft mehr sah. Robert, der ein Zimmer in einem der Bordelle bewohnt, in denen die US-Soldaten Ablenkung suchen, flirtet selbstbewusst mit ihr, ohne zu ahnen, dass sie verheiratet ist. Er erfährt, dass sie ihren Hund sucht, erzählt ihr aber nichts von dessen Tod, sondern nutzt seinen Wissensvorteil für einen weiteren Annäherungsversuch… 


"Hart und direkt, mit erotischen und brutalen Realitäten..."

sollte "Schwarzer Kies" (ursprünglich geplanter Titel "Haut auf Haut") nach Aussage seines Regisseurs Helmut Käutner werden und auf diese Weise die Realität im Jahr 1960 abbilden, um "alle deutschen Tabus zu durchstoßen". Eine so provokante, wie überraschende Aussage, denn Käutners Filme zeichneten sich von Beginn an durch ihre authentische Darstellung menschlicher Verhaltensweisen aus. "Große Freiheit Nr. 7" (1943) spielte vor dem Hintergrund von Liebe, Sex und Prostitution und gemeinsam mit dem Autoren und Produzenten Walter Ulbrich hatte Käutner schon am Drehbuch zu "Unter den Brücken" (1945) zusammen gearbeitet, der einfühlsam eine Geschichte von einer Frau zwischen zwei Männern erzählte.

Dem Subtext einer modernen, die sozialen Veränderungen realistisch betrachtenden Sichtweise blieb Käutner auch nach dem Krieg treu, vermied aber eine direkte Konfrontation. Das änderte sich Ende der 50er Jahre als er mit Wolfgang Staudte und Harald Braun eine eigene Produktionsgesellschaft gründete, um ihre Vorstellungen ohne Konzessionen umsetzen zu können. Wegen Brauns frühem Tod entstanden mit "Der Rest ist Schweigen" (1959, Regie Käutner) und "Kirmes" (1960, Regie Staudte) nur zwei Filme unter eigener Hoheit. "Schwarzer Kies" - die letzte Produktion der 1956 reprivatisierten "Universum Film AG" - vertrat zwar eine ähnlich kompromisslose Haltung, setzte aber auf reines Unterhaltungs- und Spannungs-Kino, ohne konkrete Gesellschaftskritik zu üben. Wenig wohlwollend, aber zurecht rückte ihn die zeitgenössische Presse in die Nähe französischer Thriller, denn besonders die Parallelen zu Clouzots „Le salaire de la peur“ (Lohn der Angst, 1954) sind offensichtlich.

Nicht allein wegen der hart gesottenen LKW-Fahrer, die den schwarzen Kies für die Düsenjäger-Startbahn anliefern, sondern mehr noch wegen des Hintergrunds einer von den Verheißungen des US-Kapitalismus abhängigen Sozialisation. Lebten bei Clouzot die Menschen im Schatten einer Öl-Raffinerie, setzen sie in „Schwarzer Kies“ ihre Hoffnungen auf die US-Armee, um deren Territorium sich Geschäftemacher, Betrüger, Vergnügungslokale und Bordelle angesiedelt haben – bevölkert von Frauen und Männern, die in der Illusion leben, irgendwann mit den Taschen voller Geld den Absprung zu schaffen. Doch anders als in „Lohn der Angst“ befinden sie sich nicht in einer abgelegenen Einöde, sondern mitten in Deutschland, in Sichtweite gepflegter Reihenhausanlagen, womit der Film einen Angriff auf die Scheinmoral der frühen 60er Jahre wagte. Die beiden Protagonisten Inge (Ingmar Zeisberg) und Robert (Helmut Wildt) symbolisierten die gegensätzlichen Positionen eines unsteten, abenteuerlichen Lebens und eines bürgerlichen Daseins, ohne als Identifikation dienen zu können.

Wildt verkörperte in seinem ersten Film den selbstständigen LKW-Fahrer Robert Neidhardt, der einen Teil seiner Kies-Lieferungen an die Amerikaner vortäuscht, um das Material schwarz zu verkaufen. Das funktioniert dank gefälschter Lieferscheine, die ihm Otto Krahne (Wolfgang Büttner) besorgt, der auch mit anderen Fahrern zusammenarbeitet und plant, mit dem verdienten Geld seinen Lebensabend luxuriös im Ausland zu verbringen. 15 Jahre nach dem Ende des Krieges hat sich der Respekt vor den Amerikanern längst verflüchtigt und ist, frei von jedem Schuldbewusstsein, rein wirtschaftlichen Motiven gewichen. Neidhardt ist gleichzeitig Profiteur und Opfer. Ein attraktiver, selbstbewusst auftretender Mann, der nach dem Krieg nicht mehr ins geregelte Leben zurückgefunden hat. Er bewohnt ein einfaches Zimmer in einem Nachtclub, wird von einer Prostituierten (Anita Höfer) geliebt, ohne deren Gefühle zu erwidern, und lebt ziellos in den Tag hinein. Das ändert sich als er zufällig Inge wieder trifft, die er als Anhalterin mitnimmt. Der Wagen ihres Mannes Major John Gaines (Hans Cossy), Befehlshaber des Stützpunkts, hatte eine Panne.

Inges Werdegang verlief entgegen gesetzt, nachdem sie sich getrennt hatten. Details über ihre gemeinsame Zeit werden nur angedeutet, aber trotz der nach wie vor vorhandenen erotischen Anziehungskraft, entschied sie sich, ihn zu verlassen, um ein materiell gesichertes und sozial anerkanntes Leben zu führen. Alles in „Schwarzer Kies“ atmet die Folgen des Krieges. Nicht mehr in der unmittelbaren Konsequenz von Zerstörung oder Hunger, sondern in der unbändigen und gleichzeitig unerfüllbaren Sucht nach Sicherheit und Glück. Das propagierte geordnete Leben existiert hier ebenso wenig, wie emotional gefestigte Menschen. Ein junges Paar – die jungfräuliche Anni (Edeltraut Elsner) und der US-Soldat Bill (Peter Nestler) – scheint aus der vergnügungssüchtigen Masse herauszutreten, stirbt aber bei einem von Neidhardt verschuldeten Unfall. Die wahre Ursache erfährt nur der Betrachter. Bill war die Genehmigung für ihre geplante Hochzeit vom US-Konsulat verweigert worden, da Anni aus der DDR stammt, aber er versuchte noch, sie zum Sex zu bewegen, ohne ihr diese Konsequenz mitzuteilen. Als sie sich wehrt, losreißt und er ihr auf die Straße folgt, kommt es zu dem Unglück.

Angesichts der fatalistischen Mischung aus Egoismus, Sex und Gewalt, die Käutner in kräftigen Schwarz-Weiß-Bildern entwarf, erstaunen die kritischen Stimmen nicht, die dem Film damals Klischees und einseitige Charakterisierungen attestierten. „Schwarzer Kies“ bemühte sich weder um Differenzierungen, noch Ausgewogenheit, traf damit aber den Nerv einer Zeit, die schon deutliche Schatten in Richtung der sozialen Veränderungen der späten 60er Jahre warf. Wie missverstanden sein Film wurde, wird auch an der Anklage wegen Antisemitismus deutlich, der sich Käutner durch den Zentralrat der Juden ausgesetzt sah. In einer Szene beschimpft einer der Gäste den Club-Besitzer mit „Saujud“, nachdem dieser ihn mehrfach freundlich aufgefordert hatte, wegen der US-Soldaten auf patriotisches Liedgut aus der Juke-Box zu verzichten. Käutners gegenteilige Absicht lag darin, den latent vorhandenen Hass gegenüber Juden in der Bevölkerung hervorzuheben, aber allein dass ein ehemaliger KZ-Häftling – die Kamera erfasst nach dem Streit dessen tätowierten Code am Unterarm - ein Bordellbetreiber sein sollte, genügte schon als Affront.

Diese Szene kann beispielhaft für einen Film gelten, hinter dessen Fassade Anfang der 60er Jahre Niemand zu sehen bereit war. Selbst die seriöse „Zeit“ verstieg sich zu dem Urteil eines „durchschnittlichen Kriminalfilm mit einer langweiligen Polizei“, obwohl „Schwarzer Kies“ nichts weniger als ein Kriminalfilm ist. Die Polizei nimmt nur eine Nebenrolle als gelegentlicher Störenfried ein, ohne wirklich ernst genommen zu werden. Das Verschwinden des jungen Paares – Neidhardt entsorgte die Leichen im Kies unter der Startbahn – wird nicht als Verbrechen erkannt, sondern Annis DDR-Herkunft zugeschoben. Als kommunistische Spionin hätte sie Bill verführt, der mit ihr hinter den eisernen Vorhang geflohen wäre. So die einhellige Meinung, die jedes Einfühlungsvermögen über die gängigen Vorurteile hinaus vermissen lässt.

Eine Haltung, der sich Käutners Film generell ausgesetzt sah und die darin gipfelte, dass „Schwarzer Kies“ gemeinsam mit seinem Nachfolgefilm „Der Traum von Lieschen Müller“ (1961) als „Schlechteste Leistung eines bekannten Regisseurs“ im Jahr 1961 ausgezeichnet wurde. Vergeben von der Jury „Preis der jungen Filmkritik“, die sich parallel zum „Oberhausener Manifest“ um eine Erneuerung des deutschen Films bemühte und Regisseure wie Helmut Käutner zur Vergangenheit zählte (passend titelte der „Spiegel“: „Papas Kies“). Ein absurdes Urteil, denn von der Bildsprache abgesehen, deren schwere Schwarz-Weiß-Optik an Käutners vom poetischen Realismus beeinflusste frühe Filme erinnert, verwies „Schwarzer Kies“ in seiner so mitreißenden, wie zerstörerischen Mischung aus Maßlosigkeit und Hedonismus unmittelbar in die Zukunft.

"Schwarzer Kies" Deutschland 1961, Regie: Helmut Käutner, Drehbuch: Helmut Käutner, Walter Ulbrich, Darsteller : Ingmar Zeisberg, Helmut Wildt, Hans Cossy, Wolfgang Büttner, Anita Höfner, Laufzeit : 107 Minuten

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Freitag, 2. Mai 2014

Ein Herz spielt falsch (1953) Rudolf Jugert

Zum 90.Geburtstag von Ruth Leuwerik am 23.04.2014:

Inhalt: Peter van Booven (O.W. Fischer), ständig pleite und von seinen Gläubigern verfolgt, will die junge Gerda (Gertrud Kückelmann) dazu überreden, ihr gemeinsames Kind abtreiben zu lassen. Mehr als ein kurzes Abenteuer wäre das zwischen ihnen nicht gewesen und sie würden auch nicht zusammenpassen. Ohne ihr Unglück weiter zu beachten, begibt er sich zu dem Chefarzt Professor Linz (Carl Wery), der mit seinem Vater befreundet war, um ihn um einen Eingriff bei Gerda zu bitten. Zuerst ihm wohlwollend begegnend, verweigert der Arzt empört Van Boovens Ansinnen und wirft ihn aus seiner Praxis.

Als er aus dem Krankenhaus tritt, begegnet er Sybilla Zander (Ruth Leuwerik), einer ehemaligen Klassenkameradin, die sich wegen ihrer Schmerzen am Hinterkopf bei dem mit ihr befreundeten Professor untersuchen lassen will. Er erkennt die unscheinbare, allein stehende junge Frau aus reichem Hause sofort wieder, die sich nicht verändert hat – schon während der Schulzeit hatte er sie „Alte Schachtel“ genannt. Wenig später kehrt er nochmals ins Krankenhaus zurück, da er seinen Hut vergaß, und wird zufällig Zeuge eines Gesprächs unter Ärzten, in dem Professor Linz seine tödliche Diagnose äußert. Sybilla hat seiner Meinung nach nur noch sechs Monate zu leben. Wieder in seiner kleinen Wohnung, erfährt er von seiner Vermieterin (Lina Carstens), dass ein ungehobelter Kerl nach ihm gefragt hätte, der bald wieder kommen will. Peter van Booven fasst einen perfiden Plan…


Ein Abenteurer, dem die Gläubiger im Nacken sitzen und dessen einzige Reaktion darauf, dass seine Geliebte schwanger ist, darin liegt, sich bei einem Arzt um eine Abtreibung zu bemühen, hört in dessen Praxis zufällig mit, dass eine frühere Klassenkameradin an einem unheilbaren Tumor leidet und nur noch wenige Monate zu leben hat. Zwar machte er sich schon damals über das altmodische, unscheinbare Aussehen der Industriellentochter lustig, aber angesichts des verlockenden Erbes, dass auf einen Schlag seine Probleme lösen könnte, setzt er seinen gesamten Charme ein, um ihre frühere Bekanntschaft wieder aufzufrischen. Mit Erfolg, denn die nach einer Operation noch geschwächte junge Frau, die nichts von ihrem tatsächlichen Zustand weiß - der mit ihr befreundete Arzt wagt es nicht, sie über ihren baldigen Tod aufzuklären - freut sich über dessen Aufmerksamkeiten und verliebt sich in den attraktiven Mann.

Angesichts dieser Schmonzette überrascht es nicht, dass der Text als Fortsetzungsroman Anfang der 50er Jahre in der "Hör Zu" veröffentlicht wurde, geschrieben von deren langjährigen Chefredakteur Eduard Rhein unter dem Pseudonym Hans-Ulrich Horster. Entsprechend geringschätzig fielen die Kommentare der zeitgenössischen Kritiker ("oberflächlich konstruiert", "konventionell und falsch im Stoff") für einen Filmplott aus, der auch in heutigen Komödien vorstellbar wäre. Erst die Zusammenführung zweier gegensätzlicher kaum vorstellbarer Menschen unter emotional zugespitzten Bedingungen, die folgerichtig zu geschlechtsimmanenten Charakter Veränderungen führen - aus dem hässlichen Entchen wird ein schöner Schwan und aus dem egoistischen Schwerenöter ein verantwortungsvoller Ehemann. Äußerlich beschreitet "Ein Herz spielt falsch" genau diesen Weg, aber es wird deutlich, wie zeitlos, konkret und stimmig Regisseur Rudolf Jugert und seine Drehbuchautorin Erna Fentsch, Ehefrau von Carl Wery und mehrfache Mitstreiterin Jugerts („Ich heiße Niki“, 1952), die Romanvorlage umsetzten.

Dank seines Charmes vermied O.W. Fischer eine gänzlich unsympathische Gestaltung des berechnend vorgehenden männlichen Protagonisten Peter van Booven, aber an Konsequenz ließ er es nicht missen. Die von ihm schwangere Gerda (Gertrud Kückelmann) weist er zurück, bis sie sich das Leben nehmen will. Mit der Erinnerung an seinen verstorbenen Vater versucht er dessen Freund Professor Linz (Carl Wery) zu einer Abtreibung zu überreden und für den Blumenstrauß, mit dem er bei seiner früheren Klassenkameradin Sybilla Zander (Ruth Leuwerik) am Krankenbett Eindruck schinden will, verkauft er ein Andenken an den gefallen Sohn seiner Vermieterin (Lina Carstens). Selbst heute ließe sich kaum ein männlicher Filmstar auf das Risiko ein, eine ähnlich negativ besetzte Hauptfigur zu spielen, die Anfang der 50er Jahre zudem gegen die sehr viel konservativeren moralischen Standards verstieß. So überzeichnet diese Figur angelegt wurde, so authentisch vermittelt sie die häufig gebrochenen Lebensläufe in der Nachkriegszeit. O.W. Fischer spielte van Booven als Getriebenen, der nach dem Krieg die Kontrolle über sein Leben verloren hat und dem jedes Mittel recht ist, um seiner Notlage zu entkommen. Trotz dessen Charakterlosigkeit fiel es damals nicht schwer, sich mit dessen Situation zu identifizieren.

Ruth Leuwerik verkörperte das Gegenteil – eine altmodisch wirkende junge Frau, die von geradezu atemberaubender Verlässlichkeit und innerer Ruhe ist. Schon während ihrer gemeinsamen Schulzeit nannte sie Van Booven eine „Alte Schachtel“, aber diese Bezeichnung erweist sich hier als Prädikat. Denn im Gegensatz zu den üblichen Geschichten vom „Hässlichen Entchen“ ändert sie sich nicht, sondern gewinnt in den Augen des Betrachters gerade dadurch, dass sie sich selbst treu bleibt. Ruth Leuwerik, die zuvor schon zwei Filme an der Seite Dieter Borsches gedreht hatte und mit „Königliche Hoheit“ (1953, Regie Harald Braun) noch im selben Jahr eine weitere Zusammenarbeit folgen ließ, wurde durch „Ein Herz spielt falsch“ endgültig zum großen Filmstar. Zwei weitere gemeinsame Filme mit O.W. Fischer unter der Regie Helmut Käutners („Bildnis einer Unbekannten“ (1954) und „Ludwig II.: Glanz und Elend eines Königs“ (1955)) gaben Ruth Leuwerik erneut die Gelegenheit, einen selbstbewussten und eigenständigen Frauen - Typus zu spielen, der auch viel über ihre enge Zusammenarbeit mit Braun, Käutner und Jugert aussagt, die die frühen Jahre ihrer Karriere prägten und mit denen sie auch später wiederholt zusammen arbeitete.

Harald Braun, der einen Großteil der Käutner-Filme der 50er Jahre produzierte (bis er früh 1960 starb), besetzte sie erstmals in einer Hauptrolle in „Vater braucht eine Frau“ (1951) und Rudolf Jugert, seit Käutners erstem Film „Kitty und die Weltkonferenz“ (1939) als Regie-Assistent an dessen Seite tätig - bis er 1948 in „Film ohne Titel“ selbst erstmals die Regie übernahm – profitierte in „Ein Herz spielt falsch“ ungemein von Leuweriks exaktem und unaufgeregtem Spiel. Ihre Präsenz, die auch in den letzten Minuten des Films, als ihr Tod unmittelbar bevorsteht, jedes Abgleiten in Kitsch verhindert und O.W. Fischers schnelle Wandlung vom Saulus zum Paulus in den Hintergrund drängt, verlieh dem Film die notwendige Seriosität, um hinter dem klischeehaften Treiben den Angriff auf die damaligen Moralvorstellungen zu erkennen. „Ein Herz spielt falsch“ klingt zwar nach schicksalsschwerem Liebesdrama, aber Jugerts ein hohes Tempo vorlegender Unterhaltungsfilm wagte die Grobheit menschlicher Abgründe um eine zentrale Frauenfigur, die sich keinen gängigen Vorurteilen anbiederte.

"Ein Herz spielt falsch" Deutschland 1953, Regie: Rudolf Jugert, Drehbuch: Erna Fentsch, Hans-Ulrich Hörster, Darsteller : Ruth Leuwerik, O.W. Fischer, Carl Wery, Getrud Kückelmann, Lina Carstens, Günther Lüders, Gert Fröbe, Ernst F. Fürbringer, Rudolf VogelLaufzeit : 98 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Rudolf Jugert:

Samstag, 19. April 2014

Der Arzt von St. Pauli (1968) Rolf Olsen

Inhalt: Dr. Jan Diffring (Curd Jürgens) praktiziert als Arzt an der Reeperbahn und besitzt das volle Vertrauen der hier arbeitenden und lebenden Menschen. Niemals würde er der Polizei Informationen geben und wegsehen, wenn sich Jemand in Not befindet. Als er in den frühen Morgenstunden mit seiner Arzttasche auf der Reeperbahn unterwegs ist, kommt er einer jungen Frau zu Hilfe, die von ein paar Männern zusammen geschlagen wird.

Er ahnt nicht, dass dieser Überfall im Zusammenhang mit Sex-Partys steht, die für eine Klientel reicher Geschäftsmänner veranstaltet wird und an der sein Bruder Klaus (Horst Naumann) beteiligt ist. Obwohl dieser als Gynäkologe in einem wohl situierten Hamburger Stadtteil arbeitet, hat er hohe Schulden und ist gezwungen, reiche verheiratete Damen, die bei ihm eine ungewollte Schwangerschaft beseitigen lassen wollen, für diese Partys gefügig zu machen. Unfreiwilligen Kontakt zu diesen Vorkommnissen erhält Jan Diffring, als sich der Seemann Hein (Fritz Wepper) an ihn wendet, um Informationen über seine Verlobte Margot (Christiane Rücker) zu erhalten, die nach seiner Rückkehr verschwunden ist. Er weiß nicht, dass Margot kräftig bei den Partys mitmischt…


Die Faszination des am Hamburger Überseehafen gelegenen Stadtteils St. Pauli als modernem Sündenbabel entstand aus dessen extremen Kontrast zum konservativen, stark regulierten Bürgertum in Deutschland. St. Pauli, genauer die Reeperbahn, wurde zum Synonym für den ausschweifenden Umgang mit Sex, Alkohol, Drogen und Gewalt und symbolisierte gleichzeitig Abgrund, Freiheit und Widerstand. Dieser Hintergrund ermöglichte Helmut Käutner in die "Große Freiheit Nr.7" (1944) eine authentische Geschichte von Menschen zu erzählen, die nicht nach den Vorstellungen der damaligen Machthaber handelten. Selbst harmlose Unterhaltungsfilme wie das späte Heinz Rühmann / Hans Albers -Vehikel "Auf der Reeperbahn nachts um halb eins" (1954) erhielten dadurch noch ein wenig Tragik und Realitätsbezug.

Auch international besaß St. Pauli den Ruf eines Ortes der Extreme. In "La fille de Hambourg" (Das Mädchen aus Hamburg, 1958) - nach dem ersten Drehbuch des Erotik-Pioniers José Bénazéraf - arbeitet die Protagonistin auf der „sündigen Meile“ und für Francesco Rosi war diese so glitzernde, wie unberechenbare Welt der geeignete Ausgangspunkt für sein Gastarbeiter-Drama "I magliari" (Auf St. Pauli ist die Hölle los, 1959). Parallel schuf der gebürtige Hamburger Jürgen Roland mit seinen in einem dokumentarischen Stil gehaltenen Kriminalfilmen ein realistisches Bild des Lebens an den Landungsbrücken. Mit der nach einem Drehbuch Wolfgang Menges entstandenen Fernsehserie "Stahlnetz" (ab 1958), dem exemplarischen "Polizeirevier Davidswache" (1964) und "4 Schlüssel" (1965) bereitete er den Boden für einen Mitte der 60er Jahre eintretenden St.Pauli-Trend. Die dort vorhandene untrennbare Einheit aus "Sex and Crime" erwies sich im Film als ideal für Tabubrüche im aufkommenden Erotik- und Exploitation-Genre.

Entsprechend ließ José Bénazéraf seinen einzigen deutschen Film "St.Pauli zwischen Nacht und Morgen" (1967) vor der Hamburger Kulisse spielen und der österreichische Regisseur Rolf Olsen drehte nach "Wenn es Nacht wird auf der Reeperbahn" (1967) noch fünf weitere St. Pauli-Filme bis zu "Käpt'n Rauhbein aus St. Pauli" (1971), die jeweils auf Basis eines selbst verfassten Drehbuchs entstanden. "Der Arzt von St. Pauli" folgte 1968 zwar als zweiter Film, steht aber für den eigentlichen Beginn der "Serie", da Curd Jürgens ab diesem jeweils die Hauptrolle übernahm. Neben Jürgens gehörten Heinz Reincke (5mal) als einfacher Kerl aus dem Milieu mit dem Herzen auf dem rechten Fleck, und Fritz Wepper (3mal) als junger, manchmal über die Strenge schlagender, aber grundanständiger Love-Interest für wechselnde hübsche Damen zum festen Bestandteil des Casts. Von den weiblichen Darstellern durfte einzig Christiane Rücker - seit "Die Liebesquelle" (1965) für ihre freizügigen Rollen bekannt – zweimal ihren Körper demonstrieren.

Diese Voraussetzungen lassen schon das Grundgerüst des Olsenschen „St. Pauli – Panoptikums“ erkennen, das vom Überleben an einem Ort erzählt, der ständige Versuchungen bereithält – und damit gleichzeitig locken und abschrecken wollte. „Der Arzt von St. Pauli“ funktioniert in dieser Hinsicht beispielhaft, denn er erzählt die Geschichte eines gegensätzlichen Brüderpaars, beide Mitte 50, die die jeweilige Seite repräsentieren. Während Dr. Jan Diffring (Curd Jürgens) direkt an der Reeperbahn praktiziert und sich auch unentgeltlich der Prostituierten und Alkoholkranken annimmt, residiert sein Bruder (Horst Naumann) als Gynäkologe in einem mondänen Hamburger Stadtteil. Olsen scheute keine gängigen Klischees in der Gegenüberstellung eines engagierten Arztes und eines reichen, hoch verschuldeten Schnösels, der gut aussehende Damen aus reichem Hause, die sich zwecks einer Abtreibung an ihn wenden, gegen Bezahlung für Partys unter Geschäftskollegen sexuell gefügig macht. Die moralische Dimension lag klar auf der Hand - hier die einfachen, trotz ihrer zwielichtigen Profession als Prostituierte, Boxer oder Bar-Keeper, grundanständigen Menschen, dort die nach außen moralischen Anstand verkörpernden Großbürger, die Andere für ihre Vergnügungssucht ausbeuten - eine explosive Mischung, die Olsen, begleitet von erotischen Einlagen, zu ordentlichen Gewaltexzessen nutzte.

Hinsichtlich der einzelnen Charakterisierungen blieben einige Fragen offen, so lange sich die Protagonisten wie Rädchen in das Geschehen fügten. Die von Christiane Rücker gespielte Margot arbeitet als Animier-Mädchen bei den Partys der besseren Herren, verfolgt aber eigene Ziele, in dem sie die unter Drogen gesetzten Damen mit Fotos erpresst. Für die Organisatoren ein Ärgernis, das sich als tödlich für Margot herausstellt. Als ihr Mörder gerät der gerade in seinem Heimathafen eingetroffene Seemann Hein (Fritz Wepper) in Verdacht, der seit zwei Jahren mit ihr verlobt war und wenig begeistert darauf reagiert, dass sie plötzlich mit einem anderen Mann zusammenlebt und keine Lust mehr auf bescheidene Lebensverhältnisse hat. Wie es zu ihrer rigorosen Veränderung kommen konnte, lässt der Film ebenso offen, wie die Vergangenheit der beiden so unterschiedlichen Ärzte-Brüder. Jan Diffring erwähnt, dass es schon einmal zehn Jahre gedauert hätte, bis der Staat begriffen hätte, dass er nur seine Pflicht getan hätte (wie jetzt seine Pflicht als Mensch und Arzt). Das weist zumindest auf einen Bruch in seinem Lebenslauf hin, ohne die Zusammenhänge näher zu erläutern.

Trotz des Molochs aus Sex und Gewalt, den Rolf Olsen abwechslungsreich und spektakulär vor seinem Publikum ausbreitete, wurden gewisse Konzessionen eingehalten. Dieter Borsche spielt einen verständnisvollen, tief im Milieu verwurzelten Pfarrer, der immer ein Auge auf seine schwarzen Schäfchen hat - eine Rolle die er in „Der Pfarrer von St. Pauli“ nochmals interpretierte – und sowohl Seemann Hein bekommt zum Schluss ein anständiges Mädchen (Marianne Hoffmann) als Verlobte an die Seite gestellt, als auch Boxer Willi (Heinz Reincke) darf in den Hafen der Ehe mit einer Prostituierten einfahren. Trotzdem blieb Olsen dem St. Pauli - Image treu und vermied weitere Annäherungen an bürgerliche Positionen, wobei er neben dem lokalen Hintergrund vor allem vom Spiel Curd Jürgens profitierte, dem es gelang, die Rolle des Arztes zwischen Fatalismus und bärbeißigem Samaritertum anzusiedeln.

"Der Arzt von St. Pauli" Deutschland 1968, Regie: Rolf Olsen, Drehbuch: Rolf Olsen, Darsteller : Curd Jürgens, Horst Naumann, Heinz Reincke, Fritz Wepper, Christiane Rücker, Dieter Borsche, Laufzeit : 96 Minuten

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Donnerstag, 17. April 2014

Ich klage an (1941) Wolfgang Liebeneiner

Inhalt: Hanna (Heidemarie Hatheyer) kann ihre Freude über die Berufung ihres Mannes, Professor Thomas Heyt (Paul Hartmann), an das renommierte Münchner Pettenkofer-Institut kaum zurückhalten. Vor Temperament überquellend lädt sie spontan ihren Freundeskreis ein, begleitet von ihrer kopfschüttelnden Hausdame (Margarete Haagen) , die die Tochter aus reichem Hause nach dem Tod ihrer Mutter von Klein auf erzogen hatte. Selbst Hannas großer Bruder, der ihrem Ehemann immer skeptisch gegenüberstand, zeigt sich angesichts des Erfolgs seines Schwagers einsichtig, nur Dr. Bernhardt Lang (Mathias Wieman), der älteste Freund des Paares, selbst einmal in Hanna verliebt, verspätet sich.

Er musste noch dringend nach einem schwer erkrankten Neugeborenen sehen, weshalb er wenig Feierlaune mitbringt. Trotzdem lässt er sich von Hanna dazu überreden, mit ihr und ihrem Mann gemeinsam zu musizieren. Zuerst erklingt ihr Trio in gewohnter Qualität, doch dann versagt mehrfach Hannas Hand am Klavier, so dass sie abbrechen müssen. Die junge Frau verspricht ihrem Mann, sich von Bernhardt untersuchen zu lassen, ohne die Sache allzu ernst zu nehmen, denn sie vermutet, schwanger zu sein. Doch Bernhardts Diagnose bedeutet ihr wahrscheinliches Todesurteil… 


Regisseur Wolfgang Liebeneiner inszenierte 1947, kurz nach dem Krieg, die Uraufführung von "Draußen vor der Tür" an den Hamburger Kammerspielen, ein exemplarisches Werk der kritischen deutschen Nachkriegsliteratur, das nach dem frühen Tod seines Autors Wolfgang Borchert zu Berühmtheit gelangte. Dessen Beschreibung eines Kriegsheimkehrer-Schicksals verfilmte Liebeneiner zwei Jahre später in "Liebe 47" (1949) - der erneute Startschuss eines intensiven Filmschaffens, mit dem er fast nahtlos an seine erfolgreiche Karriere während der Zeit des Nationalsozialismus anknüpfte. Begonnen hatte er unter anderen mit zwei Rühmann-Komödien ("Der Mustergatte" (1937) und "Der Florentiner Hut" (1939)), bevor er eng mit dem Propaganda-Ministerium zusammenarbeitete, Produktionschef der UFA wurde und von Joseph Goebbels 1943 den Professoren-Titel verliehen bekam.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Liebeneiner schon 1945 als Theaterregisseur weiter arbeiten durfte und sich wenig später eines Autors wie Wolfgang Borchert annahm, der mehrfach wegen seiner kritischen Haltung gegenüber der NSDAP und Wehrkraftzersetzung im Gefängnis saß. Zu verdanken hatte Liebeneiner diese Möglichkeit der Tatsache, dass seine zwei Filme über Bismarck ("Bismarck" (1940) und "Die Entlassung" (1942)) zwar als historisch verfälschend, aber minderschwere Propagandafilme eingeordnet wurden. Seine Mitwirkung am Durchhalte-Film "Kolberg" (1945) war nicht offiziell und der unvollendete, in den letzten Kriegsmonaten gedrehte "Das Leben geht weiter" (1945) gilt als verschollen. Einzig der 1941 zwischen den Bismarck-Filmen entstandene "Ich klage an" darf heute als "Vorbehaltsfilm" nur beschränkt und unter pädagogischer Anleitung in Deutschland gezeigt werden, verfügt aber weder über antisemitische, noch kriegstreiberische Tendenzen, weshalb er Liebeneiner nach dem Ende der Nazi-Diktatur nicht belastete.

In Unkenntnis der Zusammenhänge während seiner Entstehungszeit, ließe sich "Ich klage an" als engagierter Beitrag zu der nach wie vor aktuellen Diskussion über das Recht zur "aktiven Sterbehilfe" betrachten, zudem ausgezeichnet gespielt, straff inszeniert und trotz seiner zweistündigen Länge bis zum Schluss die Spannung hochhaltend. Gehört das erste Drittel des Films dem Glück des erfolgreichen, gerade an das renommierte Pettenkofer-Institut nach München berufenen Mediziners Professor Thomas Heyt (Paul Hartmann) und seiner jungen, lebenslustigen Frau Hanna (Heidemarie Hatheyer), die spontan eine Feier zu seinen Ehren veranstaltet, beschreibt der Film in seinem zweiten Drittel die Zerstörung ihres Lebenstraums durch ihr fortschreitendes Siechtum. In dieser Phase hält der Film das Gleichgewicht zwischen Drama und Action, in dem er Hannas Todeskampf mit dem verzweifelten Versuch des Forscherteams um Professor Heyt, ein Mittel gegen die Multiple Sklerose zu entdecken, verzahnt, bevor das letzte Drittel zum klassischen Gerichts-Drama mutiert bis zum abschließenden emotionalen Schluss-Plädoyer des Angeklagten.

Wolfgang Liebeneiner entwickelte aus der Romanvorlage "Sendung und Gewissen" des Mediziners Hellmuth Unger, Mitglied des Reichsausschusses zur Erfassung Erb- und Anlagebedingter Schwerer Leiden, ein geschickt manipulierendes Drehbuch, dass seine wohlwollende Haltung für die aktive Sterbehilfe strategisch und Gegenargumenten vorgreifend aufbaute. Mit Heidemarie Hatheyer wählte Liebeneiner eine Darstellerin, die sich als kraftstrotzende und eigenständig handelnde junge Frau in "Die Geierwally" (1940) einen Namen gemacht hatte, womit er ihrer Position als um Sterbehilfe bettelnde Todgeweihte die Passivität nahm. Hanna handelt nicht als Opfer, sondern im Bewusstsein, nicht mehr ihre Funktion ausfüllen zu können - ihr Tod wird im Film als Befreiung gezeigt, als erlösender Akt in den Armen des geliebten Mannes. Dass es sich bei diesem um einen renommierten Arzt handelt, zudem Leiter eines aus Koryphäen bestehenden Forscherteams, sollte die theoretische Möglichkeit einer Heilung ausschließen - wenn sie es nicht schaffen, dann Niemand.

Doch das hätte nicht genügt, seinen Akt, ihr Gift zu verabreichen, zu legitimieren, weshalb mit Dr. Bernhardt Lang (Mathias Wieman) ein zweiter, der Sterbehilfe ablehnend gegenüber stehender Arzt, dem Ehepaar zur Seite gestellt wurde. Bei der Feier zu Beginn treten sie gemeinsam als musikalisches Trio auf, um ihre enge Zusammengehörigkeit zu demonstrieren, aber Bernhardt Langs Rolle ist ihre Konstruiertheit deutlich anzumerken. Hannas Äußerung ihm gegenüber, sie hätte ihn geheiratet, hätte er sie gefragt, bevor sie ihren jetzigen Mann traf, kann nur als Kränkung des nach wie vor von ihr begeisterten Mannes verstanden werden und passt nicht zu ihrem freundlichen Wesen. Ebenso unprofessionell ist die Aussage ihres sonst so seriösen Mannes, der Bernhardts erschütternde Diagnose, Hanna hätte Multiple Sklerose, auf dessen Eifersucht zurückführt, obwohl sich deren Wahrheitsgehalt schon in der nächsten Szene herausstellt.

Liebeneiner wollte damit die Zögerlichkeit und Unsicherheit des praktizierenden Arztes betonen, der schon nicht in der Lage war, die geliebte Frau zu erobern, obwohl er die beste Ausgangssituation besaß. Professor Heyt wird dagegen als Mann der Tat charakterisiert, der sich auch von Ablehnung und Skepsis nicht abschrecken ließ, wie sie ihm wiederholt in seinem Berufs- und Privatleben widerfahren war - zu unrecht, wie seine Berufung an das Pettenkofer-Institut suggerieren soll. Während die Liebe zwischen dem Professor und seiner Frau im Film mehrfach idealisiert wird, um den Vorwurf eigennütziger Intentionen auszuschließen, wird Dr. Lang parallel mit dem Schicksal eines Säuglings konfrontiert, dessen Leben er mit allen Mitteln der Medizin zu retten versucht, dabei aber nicht verhindern kann, dass das kleine Mädchen schwere Nebenwirkungen am Gehirn erleidet. Hatten die Eltern ihn zuvor gebeten, alles für die Heilung des Kindes zu unternehmen, beknien sie ihn jetzt, dessen Leben ein Ende zu bereiten. Angesichts des elenden Zustands des Kindes überdenkt Dr. Lang seine Meinung.

Die Nationalsozialisten hatten 1940 begonnen, systematisch aus ihrer Sicht „unwertes Leben“ zu vernichten, da dieses dem propagierten Rassenideal nicht entsprach. Bis 1941 wurden ca. 70000 Behinderte und sonstige „unerwünschte Elemente“ in der „Aktion T4“ auf Basis von Gutachten in sogenannten „Euthanasie“ - Anstalten ermordet, bis der Unmut in der Bevölkerung wuchs. Offiziell wurde die Aktion daraufhin beendet, heimlich aber weiter geführt. An dieser Schnittstelle entstand „Ich klage an“, um eine positive Stimmung für das als „aktive Sterbehilfe“ verklausulierte Euthanasie-Programm zu erzeugen. Dem Film ist diese direkte Verbindung oberflächlich nicht anzumerken, denn Joseph Goebbels ließ die Urfassung ändern, um jeden politischen Bezug zu vermeiden. Die Gerichtsverhandlung wirkt fast absurd in der Abwesenheit nationalsozialistischer Insignien und geprägt von einer toleranten Haltung.

Auch ohne das Wissen über diese historischen Zusammenhänge – ganz konkret wird im Film eine Kommission zur Entscheidung über Sterbehilfe vorgeschlagen, da den Ärzten diese Verantwortung nicht zugemutet werden könnte – und trotz der unterschwelligen Manipulation entlarvt der Film unfreiwillig das dahinter stehende unmenschliche System. Es wird zwar viel von Liebe und Aufopferung geredet, aber immer nur im Zusammenhang mit einem funktionierenden, sinnvollen Leben. Schwäche, Krankheit, Behinderung oder Niedergang besitzen keinen Wert, sondern geben nur Anlass, den Menschen von seinem Leiden zu erlösen. Hier an zwei extremen, unheilbaren und einen allgemeinen Konsens anstrebenden Beispielen exerziert. Doch sowohl an der geänderten Haltung der Säuglings-Mutter, als auch an der Hilfestellung des Ehemanns bleibt die Rationalität haften, mit der die Entscheidung über den Wert eines Lebens abgewogen wurde. Intuitiv, verrückt, unlogisch oder bedingungslos – und damit schlicht menschlich – ist nichts in diesem kalten, berechnenden Film.

"Ich klage an" Deutschland 1941, Regie: Wolfgang Liebeneiner, Drehbuch: Wolfgang Liebeneiner, Eberhard Frowein, Hellmuth Unger (Roman), Darsteller : Heidemarie Hatheyer, Paul Hartmann, Mathias Wieman, Margarete Haagen, Albert Florath, Erich Ponto, Hans Nielsen, Laufzeit : 119 Minuten


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