Montag, 31. August 2015

Warum hab' ich bloß 2x ja gesagt? (1969) Franz Antel

Vittorio (Landa Buzzanca) mit italienischer Ehefrau (Raffella Carrà)...
Inhalt: Wie immer wird Vittorio Coppa (Lando Buzzanca) von seiner Frau Teresa (Raffaella Carrà) am Bahnhof in Rom verabschiedet, wo er als Zugbegleiter im Schlafwagenabteil seinen Dienst antritt. Seine Tour führt ihn wie gewohnt nach München, wo ihn seine Frau Ingrid (Teri Tordai) schon erwartet. Entsprechend wechselt Vittorio bei jeder Dienstfahrt Ehering und das Bild der Liebsten im Anhänger und freut sich über seine zwei schönen Ehefrauen. Ein schlechtes Gewissen kennt er nicht, denn er hat sie Beide schließlich ordentlich geheiratet, weshalb er seinem Schwager auch voller Überzeugung die Meinung geigt, weil dieser seine Frau betrogen haben soll.

...und deutscher Ehefrau (Teri Tordai)
Ganz im Sinn von Teresa, die stolz ist auf ihren anständigen Ehemann. Nur wundert sie sich, weshalb nach wie vor kein Nachwuchs unterwegs ist und bittet ihn, sie zu einem Arzt zu begleiten. Dr. Pellegrini (Jacques Herlin) erklärt ihm, dass bei seiner Frau alles in Ordnung ist, weshalb er ihn gerne untersuchen möchte. Vittorio kann sich dem nicht verweigern, aber er kennt den wahren Grund. Heimlich hat er Teresa die Anti-Baby-Pille untergejubelt, die seine Frau Ingrid nimmt, denn ein Kind würde sein schönes Arrangement nur gefährden. Doch noch weitere Schwierigkeiten tauchen auf…

Die am 23.10.2003 erschienene, keineswegs vergriffene DVD ist nicht wirklich empfehlenswert. Eine lieblose Veröffentlichung im falschen Bildformat (meine Screenshots stammen von der italienischen TV-Fassung), aber geschnitten, wie häufig behauptet wird, ist sie nicht. Franz Antel schuf von Beginn an zwei eigenständige Versionen, die mit kurzem Abstand nacheinander 1969 in die Kinos kamen. Nur in der italienischen Variante wurde eine einsekündige Sequenz heraus geschnitten, in der Andrea Rau einen Moment lang vollständig nackt von vorne zu sehen ist.

Dabei ist "Warum hab' ich bloß 2 x ja gesagt" insgesamt zurückhaltend hinsichtlich seiner erotischen Bilder. Sicherlich auch dem italienischen Markt geschuldet, der in dieser Hinsicht Ende der 60er Jahre noch viel konservativer war. Die "Commedia all'italiana" der 60er Jahre, die sich langsam in Richtung "Commedia sexy all'italiana" entwickelte, wollte mehr inhaltlich provozieren, weniger mit konkreten Nacktaufnahmen. Die Besonderheit des Films liegt in seiner ausgewogenen deutsch-italienischen Mischung und ist für mich ein Bindeglied zum Italo-Filmblog "L'amore in città" und ein wichtiger Baustein zu meinem Essay über die "Commedia sexy all'italiana".

  
Schon früh hatte Regisseur Franz Antel sein Gespür für den sich wandelnden Publikumsgeschmack bewiesen, weshalb es ihm seit „Kleiner Schwindel am Wolfgangsee“ (1949) gelang, mehr als zwei Jahrzehnte lang kontinuierlich im stark dem Zeitgeist ausgesetzten Heimatfilm-Genre erfolgreich zu arbeiten (siehe „Der Weg in die Moderne - der Heimatfilm der Jahre 1958 bis 1969“). Gemeinsam mit Drehbuchautor Kurt Nachmann, der ihn seit Mitte der 50er Jahre begleitete, war er maßgeblich für die Modernisierung des Genres verantwortlich, kombinierte den Heimat- mit dem Schlagerfilm und ließ auch die zunehmende sexuelle Liberalisierung einfließen („Happy End am Wolfgangsee“, 1966). Den konkreten Schritt in Richtung Erotikfilm wagten sie innerhalb des konservativen Genres aber noch nicht, sondern wählten einen historischen Hintergrund für die fiktive Geschichte um Suzanne - die Wirtin von der Lahn (1967).

Franz Antel, der sich das Pseudonym François Legrand zulegte, besetzte die Hauptrolle mit der in Deutschland bis dahin nahezu unbekannten ungarischen Schauspielerin Teri Tordai, stellte ihr Harald Philipp als männlichen Protagonisten zur Seite und kombinierte das Ganze mit populären Heimatfilm-Mimen wie Gunther Phillip, Franz Muxeneder und Oskar Sima. Nach den zwei schnell folgenden Fortsetzungen „Frau Wirtin hat auch einen Grafen“ (1968) und „Frau Wirtin hat auch eine Tochter“ (1969) hatte Antel nicht nur Erfahrungen in der deutsch-italienischen Zusammenarbeit gesammelt – Edwige Fenech und Femi Benussi hatten darin frühe Auftritte als erotischer Blickfang – sondern war offensichtlich gewillt, mit seinem internationalen Team eine zeitgenössische Komödie abzudrehen.

Willy Millowitsch als italienischer Minister
Neben der obligatorischen Teri Tordai verpflichtete er die junge Italienerin Raffaella Carrà ("Rose rosse per Angelica" (Der Unbesiegbare, 1968, Regie Steno)) für die zweite weibliche Hauptrolle und als männlichen Protagonisten den damaligen italienischen Komödienstar Lando Buzzanca („Il merlo maschio“ (Das nackte Cello, 1971)), der zuvor schon eine Rolle in „Frau Wirtin hat auch eine Tochter“ übernommen hatte. Dazu kamen eine Vielzahl populärer Mimen in den Nebenrollen – Heinz Erhardt, Willy Millowitsch, Edith Hancke, Fritz Muliar und Peter Weck auf deutschsprachiger Seite, der französische Darsteller Jacques Herlin (wie gewohnt im Louis de Funès-Modus) und Franco Giacobini für den italienischen Part. Nur für die dezenten Nacktaufnahmen war allein die deutsche Seite zuständig – außer Teri Tordai noch Ann Smyrner und die damals 22jährige Andrea Rau in einer ihrer ersten Rollen.

Heinz Erhardt und Lando Buzzanca als sprachgemischtes Doppel
Auch das Drehbuch wurde zu einer austarierten Co-Produktion. Kurt Nachmann und Günter Ebert, zuvor schon an „Frau Wirtin hat auch einen Grafen“ beteiligt, arbeiteten mit den erfahrenen Italienern Mario Guerra und Vittorio Vighi („James Tont operazione D.U.E.“ 1965, Regie Bruno Corbucci, Hauptrolle Lando Buzzanca)) zusammen und schufen auf diese Weise eine Kombination aus „Commedia sexy all’italiana“ und deutscher „Erotik-Komödie“, wie sie in dieser ausgeglichenen Form eine Ausnahme blieb. Die Handlung wurde gleichmäßig auf die Städte München und Rom verteilt, zwischen denen Vittorio Coppa (Lando Buzzanca) als Zugbegleiter des Schlafwagenabteils pendelt. Anstatt sich dort auszuleben, wie ihm regelmäßig unterstellt wird, verfügt er an beiden Zielorten über eine Ehefrau plus Wohnung und gesellschaftlichem Anschluss.  

Aus heutiger Sicht werden die erotischen Komödien der späten 60er/frühen 70er Jahre häufig undifferenziert und ohne historischen Zusammenhang betrachtet. Bei „Warum hab‘ ich bloß 2 mal ja gesagt“ (italienischer Filmtitel „Professione bigamo“ (übersetzt „Beruf Bigamist“)) kamen noch die unterschiedlichen soziokulturellen Voraussetzungen und die damit verbundenen Intentionen beider Länder hinzu.

„Dieses groteske deutsch-italienische Farb-Lustspiel hätte amüsant werden können, wurde jedoch durch überflüssige Sex-Attribute und einen Tiefschlag gegen die Ehemoral nur geschmacklos und peinlich. Ohne jede Befürwortung.“

Vittorio knöpft sich seinen fremdgehenden Schwager vor
Diese Reaktion des „Evangelischen Film-Beobachters“ galt in Deutschland Ende der 60er Jahre schon als konservativ, im erzkatholischen Italien, in dem zu dieser Zeit Ehescheidungen noch nicht legalisiert waren, bedeutete der sympathische Bigamist noch eine echte Provokation. Und stand damit ganz in der Tradition der „Commedia all’italiana“, die sich als Angriff auf Doppelmoral und tradierte Geschlechterrollen verstand. Deutlich wird der Unterschied zwischen beiden Ländern an der kleinen Nebengeschichte um die Anti-Baby-Pille. Für Vittorio, da sehr um die Aufrechterhaltung seines Arrangements bemüht, spielt sie eine große Rolle, weil ihm Nachwuchs nicht in den Kram passt. Während Ingrid (Terri Tordai) ganz selbstverständlich das Präparat nimmt, schmuggelt es Vittorio seiner italienischen Ehefrau Teresa (Raffella Carrà) als Medikament unter – Geburtenkontrolle wurde in Italien Ende der 60er Jahre noch streng geächtet.

Großfamilie in Rom...
Es ist müßig, über den Realitätsanspruch einer solchen Konstellation nachzudenken, da allein Lando Buzzancas Spiel und das seiner gut aufgelegten Mitstreiter keinen Zweifel an der überdrehten Situation lassen, die ganz in italienisch-deutschen Klischees badete. In Rom die in einem leicht herunter gekommenen Haus lebende generationsübergreifende Großfamilie, die jedes Detail mit größter Emotionalität kommentiert – Streiks und fremd gehende Machos sind selbstverständlich an der Tagesordnung – in München das modern eingerichtete Neubau-Appartement mit berufstätiger Ehefrau, die mehr Ehrgeiz von ihrem Ehemann erwartet. Dazu ein befreundetes Paar, das sich nur um sein Sexleben sorgt, und Nachbarn, die ungeniert mit dem Fernglas spannen. Größer könnte der Unterschied kaum sein – während Vittorio in Italien den moralischen Ehemann gibt, hat er in Deutschland nichts eiligeres zu tun, als sich auf seine Frau zu stürzen.

...und modernes Großstadtleben in München
Es wäre einiges herauszuholen gewesen aus dieser Versuchsanordnung, aber anders als Vittorio scheitert der Film an seinen Sprach- und Mentalitätsgrenzen. Die Italienische Fassung verfügt über einige schöne Ansätze, etwa wenn Vittorio seinen fremdgehenden Schwager zurechtweist, weil er sich moralisch überlegen fühlt - er hat schließlich seine beiden Frauen korrekt geheiratet. Auch die abschließende Gesichtsszene und das Vittorio am Ende gut davon kommt – der italienische Filmtitel „Professione bigamo“ erweist sich in dieser Hinsicht als stimmiger – sind eine wunderbare Satire auf die damalige Scheinmoral. Nur verwässern die vielen „deutschen“ Handlungsanteile diesen Eindruck. Dass es in Deutschland sexuell offener zuging, wird keinen Italiener provoziert haben, abgesehen davon, dass der spezifische Sprach-Witz von Heinz Erhardt, Willy Millowitsch und Edith Hancke auf Italienisch nicht mehr wirkt.

Püppi (Ann Smyrner) versucht wieder Pepp in ihr Eheleben zu bringen
In der deutschen Sprachfassung funktioniert ihr Humor selbstverständlich, aber dafür fehlt ihr jede anarchische Qualität. Zwar sollten das Spanner-Paar und Ann Smyrner als notgeile Püppi, deren Mann (Rainer Basedow) nach wenigen Ehejahren keine rechte Lust mehr verspürt, ironisch auf die zunehmende Sexualisierung der Gesellschaft anspielen, lagen damit aber ganz auf der Linie vieler Erotik-Komödien dieser Zeit, die damit gleichzeitig voyeuristische Bedürfnisse befriedigten. Auch der „Tiefschlag gegen die Ehemoral“, den der „Evangelische Film-Beobachter“ beklagt, besitzt nur die Kraft eines lauen Lüftchens. Schuld und damit unmoralisch ist nur Vittorio – und der ist bekanntlich Italiener. Die Ereignisse in Rom vermitteln typisches Lokalkolorit ohne doppelten Boden, auch wenn Willy Millowitsch als italienischer Minister mit kölschem Dialekt den Eindruck ein wenig stört.


Trotzdem ist „Warum hab‘ ich bloß 2 x ja gesagt“ allein wegen des Versuchs bemerkenswert, deutsche und italienische Eigenarten miteinander zu verbinden. Lando Buzzanca überzeugt wie gewohnt als Mischung aus Macho und Trottel – ein Typ, dem man die schönen Frauen genauso zutraut, wie das Chaos, dass er um sich herum anrichtet. Trotz seines Einsatzes ist aber kaum anzunehmen, dass Franz Antels Film in Italien erfolgreich lief – zu groß war der Anteil an deutschen Eigenarten. Der deutschen Komödie tat der italienische Einschlag dagegen gut und nahm der Chose ein wenig die kleinbürgerliche Betulichkeit vieler zeitgleich entstandener Komödien. Wann durfte am Ende schon ein überzeugter Bigamist der Gewinner sein?

"Warum hab' ich bloß 2x ja gesagt" Deutschland, Italien 1969, Regie: Franz Antel, Drehbuch: Kurt Nachmann, Günter Ebert, Mario Guerra, Vittorio Vighi, Darsteller : Lando Buzzanca, Teri Tordai, Raffaella Carrà, Ann Smyrner, Jacques Herlin, Franco Giacobini, Peter Weck, Edith Hancke, Fritz Muliar, Heinz Erhardt, Willy Millowitsch, Andrea RauLaufzeit : 85 Minuten 

weitere im Blog besprochene Filme von Franz Antel:

Mittwoch, 19. August 2015

Verführung am Meer (Ostrva) (1963) Jovan Zivanovic

Inhalt: Eva (Elke Sommer) verlässt die U-Bahn-Station und eilt in hochhackigen Schuhen über die winterlichen Straßen Berlins zu einem Termin. Ihr Aussehen ist gefragt bei der Vorstellung im Haus einer älteren Dame (Blaženka Katalinić), von der sich Eva einen gut bezahlten Job erhofft. Ihre Attraktivität überzeugt und sie erhält den Auftrag – 2000 DM bekommt sie sofort, die restlichen 2000 nach Erledigung.

Schon am nächsten Tag fliegt sie nach Dalmatien an die Adria-Küste, um dort als Urlauberin einzuchecken. Schnell lernt sie einen jungen Einheimischen (Branimir Tori Jankovic) kennen, der sich näher für die junge Blondine interessiert. Eva erwidert seine Avancen zwar nicht, freundet sich aber mit ihm an und erfährt so, auf welcher der vielen kleinen Inseln sich der von ihr gesuchte Mann (Peter van Eyck) befindet. Sie mietet sich ein Boot und legt an dessen Rückzugsort an, muss aber feststellen, dass er sich nicht nur verbarrikadiert hat, sondern auch die Hunde auf sie hetzt…


Als "Verführung am Meer" am 04.11.2014 von der PIDAX veröffentlicht wurde, nahm ich den Film zuerst nicht wahr. Zu wenig ließ er sich trotz Elke Sommer und Peter van Eyck in die deutsche Kino-Historie einordnen. Deutsch-jugoslawische Co-Produktionen waren zu dieser Zeit keine Seltenheit, aber bei "Verführung am Meer" lag die Sache irgendwie anders - bis ich mich näher mit Regisseur Zivanovic auseinander setzte und seinen Film „Čudna devojka“ entdeckte, den er ein Jahr zuvor mit dem selben Team gedreht hatte. Er kam unter dem Titel "Studentenliebe" 1963 in einer deutsch synchronisierten Fassung in die DDR-Kinos und hätte ich einen Wunsch frei, dann sähe ich ihn gerne auf DVD.

So sehr ich es schätze, dass die PIDAX "Verführung am Meer" wieder zugänglich machte, so sehr beließ sie es dabei, die falsche Erwartungshaltung an den Film zu unterstützen, die ihm schon zu seiner Entstehungszeit schadete. Die Überschrift "Vom Drehbuchautor von "Todesschüsse am Broadway" und "Dynamit in grüner Seide"" ist auch insofern falsch, dass Rolf Schulz, der die Drehbücher zu den genannten Filmen erst viele Jahre später schrieb, hier nur unterstützend tätig war. Stattdessen war der jugoslawische Autor Jug Grizelj dafür verantwortlich, der sein Drehbuch zu „Čudna devojka“ variierte. Die Parallelen zwischen beiden Filmen in der Charakterisierung einer jungen Frau in einer Phase, in der sich moralische Standards und die Geschlechterrollen zu ändern begannen, sind offenkundig - "Verführung am Meer" ist junges modernes Kino der frühen 60er Jahre im Geist der "Nouvelle vague" (Die grünen Links führen zur Amazon-Bestellseite). 


"Und das übrige…ist das auch echt?"

Die hübsche Blondine bejaht. Sie will den Job und das Geld, denn sie mag die Dinge, die sie sich davon kaufen kann. Die eine Hälfte sofort, die zweite bei Erfolg. Ihr Auftrag wird nicht genannt, aber der deutsche Filmtitel lässt keinen Zweifel daran: "Verführung am Meer". Sie reist vom winterlichen Berlin an die jugoslawische Adria-Küste. Schnell bekommt sie Kontakt vor Ort, denn die junge als Urlauberin getarnte Deutsche weckt Begehrlichkeiten, die sie für ihre Zwecke nutzen kann. Sie verfolgt eine klare Strategie - ihre körperlichen Vorzüge am richtigen Ort so zu präsentieren, dass sie der Zielperson ins Auge fallen. An dessen Reaktion hegt sie keinen Zweifel.

Das Wort "Prostitution" fällt nicht im Film, aber die Unmoral ist mit Händen zu greifen. Elke Sommer ist "Eva" und sie nähert sich dem Mann, um ihn aus dem Paradies zu vertreiben. Sie täuscht eine Notlage vor, um den so herbei gelockten Peter (van Eyck) zum Sex zu verführen. Er, der auf einem felsigen Eiland vor der Adria-Küste sein Refugium abseits der Menschen gefunden hat, soll wieder in eine bürgerliche Existenz nach Deutschland zurückkehren. Verlockt von dem einzigen, was ihm in seiner selbst gewählten Einsamkeit vermeintlich fehlt - die Nähe zu einer Frau.

"Wer bist du?“ – „Ein Mann, und du?“ – „Eine Frau“

"Verführung am Meer" hätte eine böse, mahnende Geschichte erzählen können über vorgetäuschte Gefühle und die zunehmende sexuelle Verkommenheit in der Gesellschaft - Elke Sommer ("...und sowas nennt sich Leben", 1961) und Peter van Eyck ("Endstation 13 Sahara", 1963) besaßen ausreichend Erfahrung im Genre des Moralfilms - doch der Film wählte einen anderen Weg. Eva und Peter kommen sich näher und die junge Frau verliebt sich in den deutlich älteren Mann. Eine Entwicklung, die wiederum reflexartig den Verdacht provoziert, hier handelte es sich um eine lüsterne Alt-Herren-Fantasie, untermalt von den für diese Zeit offenherzigen Bildern einer hübschen jungen Frau. Dieser Vorwurf will oder kann den entscheidenden Unterschied zu einem solchen Männer-Traum vielleicht nicht erkennen - nicht der Mann steht hier im Mittelpunkt, sondern die Frau, aus deren Perspektive der Film erzählt wird.

Zwar entfaltet sich im Lauf der Handlung die Vergangenheit Peters und werden seine Beweggründe deutlich, warum er an diesem einsamen Ort lebt, aber sein Charakter erfährt keine Entwicklung. Ganz anders dagegen die junge Frau, auch wenn der Betrachter bis zum Schluss kaum etwas über sie weiß. Sie agiert, während er reagiert. Zuerst auf ihre Verführung, dann auf das beginnende Liebesspiel bis zur Offenbarung ihrer ursprünglichen Intention. Nicht der Mann ist es, der dank seiner moralischen und geistigen Überlegenheit bzw. seines liebenswerten Wesens der Frau den richtigen Weg weist – Grundvoraussetzung eines feuchten Männertraums – sondern sie selbst zieht eigene Konsequenzen. Peter wäre ihr sonst wie geplant auf den Leim gegangen.

„Du spielst mit mir?“ – „Und warum nicht?“

„Verführung am Meer“ ist ein Wunder. Er moralisiert, wertet und relativiert nicht, sondern erzählt eine einfache Geschichte inmitten einer in ihrer felsigen Kargheit wunderschönen Landschaft. Die üblichen halbseidenen Assoziationen – Sex, Nacktheit, junge Frau, älterer Mann – verfangen hier nicht, denn „Verführung am Meer“ oder schlicht „Ostrva“ (Inseln), wie der Film auf serbo-kroatisch heißt, ist tief im jungen jugoslawischen Kino der frühen 60er Jahre verankert, das sich an der französischen „Nouvelle Vague“ orientierte. Im Jahr zuvor hatte Regisseur Jovan Zivanovic die Romanverfilmung „Čudna devojka“ (Studentenliebe, 1962) herausgebracht – die Geschichte einer jungen Studentin, die unangepasst und sexuell offensiv ihren eigenen Weg sucht. „Cudna devojka“ spielte vor dem Hintergrund der sozialistischen Gesellschaft in Jugoslawien und war nur in der DDR in die Kinos gekommen, weshalb „Verführung am Meer“ – mit westdeutschen Produktionsgeldern entstanden und den Filmstars Elke Sommer und Peter van Eyck prominent besetzt - vordergründig wenig Gemeinsamkeiten mit seinem Vorgängerfilm aufzuweisen scheint.

Spela Rozin in "Cudna devojka" (Studentenliebe, 1962)
Tatsächlich überwiegen die Parallelen, denn Regisseur Zivanovic versammelte dasselbe Kreativ-Team um sich - nur um den damaligen Newcomer Rolf Schulz ergänzt, der für die deutschsprachigen Dialoge zuständig war. Gemeinsam mit Drehbuchautor Jug Grizelj, Kameramann Stevan Miskovic, Komponist Darko Kraljic und Cutterin Jelena Bjenjas variierte Zivanovic die in „Čudna devojka“ verfilmte Story einer selbstbewussten jungen Frau neu – vor dem Hintergrund einer Urlaubslandschaft und ohne offensichtliche Nähe zur gesellschaftspolitischen Tagesaktualität. Besonders in der Gegenüberstellung beider Filme wird deutlich, dass die Geschichte um Peter nur als Rahmen dient – die Charakterisierung der jungen Frau und ihr Weg der Selbstfindung blieb dem Geist von „Čudna devojka“ treu. Zivanovic betrachtete seine weiblichen Protagonistinnen mit Sympathie und verurteilte ihre offene sexuelle Attitüde nicht. Im Gegenteil erweisen sich Beide als intelligent und in der Lage ihr eigenes Verhalten zu hinterfragen und zu korrigieren.

Damit widersprach „Verführung am Meer“ den damaligen moralischen Standards, die einforderten, dass junge Frauen für ihr promiskuitives Verhalten büßen sollten. Zumindest ihr Ruf wurde nachhaltig beschädigt, wie auch ihre Auftraggeberin annimmt. Doch Eva ordnet sich nicht unter, sondern behält die Hoheit über ihr Handeln – am Ende wirkt ihr Verhalten moralischer als das der alten Dame. Unterstützt wurde Zivanovics Gespür für die beginnenden soziokulturellen Veränderungen durch eine kontrastreiche Bildsprache, deren Perspektiven die Menschen immer in Bezug zu ihrer Umgebung setzen. Mal verleiht er ihnen Dominanz, mal bleiben sie im Hintergrund oder assimilieren sich fast bis zur Unsichtbarkeit in der Landschaft. Obwohl nur wenige Minuten zu Beginn ins Bild gerückt, vermittelt der Weg Evas durch Berlin (auch wenn die Anordnung geografisch nicht logisch ist) eine Verlorenheit, die ihre späteren Motive verständlich werden lässt.

In stilistischer Hinsicht ähnelt „Verführung am Meer“ seinem Vorgänger „Čudna devojka“, aber Regisseur Zivanovic konnte für den westdeutschen Markt etwas mehr wagen – Elke Sommer inszenierte er in ihrer Erotik konkreter als zuvor Spela Rozin. Beim Publikum geholfen hat es ebenso wenig wie die Küstenlandschaft und die populäre Besetzung. Obwohl dem Film seine inszenatorischen Qualitäten nicht abgesprochen wurden, lassen die wenigen Kritiken die Unfähigkeit erkennen, sich auf die inneren Beziehungen der Protagonisten, besonders aber auf die weibliche Hauptrolle einlassen zu wollen - bis hin zu der zwar werbewirksamen, die Intention des Films massiv missverstehenden Bezeichnung einer „modernen Robinsonade“. Sowohl „Čudna devojka“ (Studentenliebe) als auch „Verführung am Meer“ waren hinsichtlich ihres Umgangs mit der Sexualität und den Geschlechterrollen ihrer Zeit voraus – und sind es immer noch.

"Verführung am Meer" Deutschland, Jugoslawien 1963, Regie: Jovan Zivanovic, Drehbuch: Jug Grizelj, Rolf Schulz, Darsteller : Elke Sommer, Peter van Eyck, Blazenka Katalinic, Branimir Tori Jankovic, Laufzeit : 76 Minuten

Montag, 10. August 2015

Einer von uns beiden (1973) Wolfgang Petersen

Inhalt: Bernd Ziegenhals (Jürgen Prochnow) lebt in einem kleinen Zimmer in einer Hinterhauswohnung in Kreuzberg zur Untermiete. Mehr kann sich der gescheiterte Student nicht leisten, der vergeblich versucht, einen Verlag für sein Buch zu finden. Als er einen kleinen Recherche-Job übernimmt, entdeckt er zufällig, dass der renommierte Universitäts-Professor Kolczyk (Klaus Schwarzkopf) seine Doktorarbeit nicht selbst geschrieben, sondern einen englischen Text ins Deutsche übersetzt hatte. Er meldet sich in dessen Uni-Büro an und konfrontiert ihn mit dieser Tatsache. Für sein Stillschweigen verlangt er 10000 Mark und weitere monatliche Zahlungen.

Erste Begegnung: Professor und Ex-Student
Kolczyk zahlt, macht aber kein Geheimnis daraus, dass er sich das nicht dauerhaft gefallen lassen wird. Ziegenhals, der sein Geld in ein Auto steckt und in eine bessere Gegend umzieht, unterschätzt den Professor, der beginnt, in seinem Privatleben nachzuforschen. Dabei lernt er auch Miezi (Elke Sommer) kennen, eine Prostituierte, die in Kreuzberg bis vor kurzem mit Ziegenhals in einer Wohnung lebte. Doch bevor sich Kolczyk erneut mit ihr treffen kann, wird Mieze ermordet aufgefunden, weshalb wenig später ein Inspektor (Peter Schiff) der Berliner Polizei vor seiner Tür steht, der seinen Namen in ihrem Kalender fand. Auch für Ziegenhals interessiert sich der Inspektor, der erstaunt die hohe Zahlung des Professors an den jungen Mann registriert…


Bernd Ziegenhals (Jürgen Prochnow) ist wütend, sehr wütend. Erneut erhielt er sein Buch-Manuskript zurück, Absage inclusive. Obwohl er sein geisteswissenschaftliches Studium an der Freien Universität geschmissen hat, sind nur die Anderen an seiner Misere schuld - als Untermieter von Opa Melzer (Walter Gross) wohnt er in einem heruntergekommenen Altbau in Kreuzberg, gemeinsam mit Miezi (Elke Sommer), die hier anschaffen geht. Die Hochphase der 68er Studentenproteste an der FU lag nur wenige Jahre zurück, als Horst Bosetzkys unter dem Kürzel -ky seinen ersten Kriminalroman herausbrachte, den Regisseur Wolfgang Petersen wiederum als Grundlage für seinen ersten Kinofilm nahm - nur ist von einer klassenkämpferischen Attitüde hier nichts mehr zu merken.

Ziegenhals (Jürgen Prochnow) mit der Professoren-Tochter (Kristina Nel)
Dabei ist Bernd Ziegenhals der Idealtypus eines studentischen Bürgerschrecks, wie er Anfang der 70er Jahre noch provozierte - längere Haare, saloppe Kleidung, keinen Job und ein entspanntes Verhältnis gegenüber Kriminellen. Als er bei einem Quellenstudium zufällig feststellt, dass der bekannte Professor Kolczyk (Klaus Schwarzkopf) seine Doktorarbeit komplett abgeschrieben hatte - er hatte eine us-amerikanische Arbeit einfach ins Deutsche übertragen - bedarf es keiner großen Überwindung, ihn zu erpressen. Schuldgefühle gegenüber dem Professor entwickeln sich auch nicht im weiteren Verlauf der Story. Im Gegenteil nimmt er sich nur das, was ihm aus seiner Sicht zusteht. Mit Umverteilung von oben nach unten oder der Demaskierung einer betrügerischen Elite hat das nichts zu tun - von seinem erpressten Geld kauft sich Ziegenhals zuerst einen Mercedes und zieht ins gutbürgerliche Zehlendorf.

Zuhälter Prötzel (Claus Theo Gärtner) macht Miezi (Elke Sommer) Ärger
Dass es in Bosetzkys Kriminalroman auch einen Mord gibt, erhöht nur die Dynamik in einem Duell auf Augenhöhe, dessen Ausgang bis zuletzt offen bleibt. Darüber hinaus spielt er nur eine geringe Rolle. Claus Theo Gärtner gab den Zuhälter so schmierig, dass dessen Schuld an Miezis Tod kaum in Zweifel steht – zumindest im Kiez. Peter Schiff als ermittelnder Inspektor interessiert sich dagegen mehr für Ziegenhals und Kolczyk, die Beide Miezi kannten – und stört damit ihre zuerst noch austarierte Konstellation. Es ist Jürgen Prochnows überzeugendem Spiel zu verdanken, dass der Erpresser Bernd Ziegenhals nicht unsympathisch herüber kommt. Ihm gelang die Schere zwischen lässigen Umgangsformen und intellektuellem Selbstverständnis, die sowohl seine Beliebtheit bei seinem Vermieter und den Kleinkriminellen im Kreuzberger Kiez, als auch seinen späteren Erfolg bei Ginny (Kristina Nel), der Tochter des Professors, glaubwürdig werden ließ.

Kolczyk (Klaus Schwarzkopf) im Kreis seiner Familie
Zu verdanken ist dieser Eindruck nicht zuletzt seinem Gegenspieler, Professor Kolczyk, der schon bei der ersten Geldübergabe betont, dass nur „Einer von uns beiden“ am Ende übrig bleiben wird. Zunehmend geht er fanatischer vor, um seine gehobene gesellschaftliche Position zu verteidigen. Auf diese Weise verschob Petersen die Sympathien langsam in Richtung des verkrachten Studenten und damit entgegen der damaligen Erwartungshaltung, die er allein schon durch die Besetzung der beiden Hauptrollen erzeugte. Während Klaus Schwarzkopf seit Jahren zu den beliebtesten TV-Darstellern gehörte – seine Verkörperung des „Tatort“ - Kommissars Finke zählt heute noch zu den herausragenden Leistungen des Genres – war Prochnow ein Newcomer, der zwar faszinierte, aber anti-bürgerliche Typen spielte. In der „Tatort“ – Folge „Jagdrevier“ (1973) hatte er erstmals gemeinsam mit Schwarzkopf unter Wolfgang Petersens Regie vor der Kamera gestanden - als aus dem Gefängnis geflohener Mörder, dessen Fall sich ebenfalls weniger eindeutig entwickelte als es zuerst schien.

Der Inspektor (Peter Schiff)
Mehr als dass Prochnow in seiner Rolle an Sympathie gewann, überraschte Klaus Schwarzkopfs Dekonstruktion eines hoch angesehenen Bürgers. Dazu trugen auch die stimmigen Nebenfiguren bei. Während Ziegenhals im Umgang mit den Menschen seiner Umgebung fair bleibt, kann sich Kolczyk nicht einmal mehr auf seine Frau (Ulla Jacobsson) einlassen, die versucht, ihm die Angst vor dem Ansehensverlust zu nehmen. Als sich Ziegenhals ernsthaft in die Tochter des Professors verliebt, neigt sich die Waagschale endgültig in Richtung des Erpressers. Ursache und Wirkung geraten in Vergessenheit, Ziegenhals‘ Verfehlungen wirken angesichts der kriminellen Energie des Professors als lässliche Sünde.

Treffen an der Mauer mit zwei Mercedes
„Einer von uns beiden“ kommt ohne konkret formulierte Gesellschaftskritik aus, zeitgenössische Aspekte scheinen angesichts eines rein um Besitz und Ansehen geführten Duells nebensächlich. Doch das täuscht. Geschickt spielte Petersen mit bürgerlichen und anti-bürgerlichen Klischees, manipulierte Erwartungshaltungen und Gerechtigkeitsempfinden vor der Kulisse einer Stadt im Umbruch. West-Berlin gibt ein unfertiges Bild ab, bestehend aus staubigen Straßen inmitten sanierungsbedürftiger Altbauten, kleinbürgerlichen Villen-Siedlungen, Betonplätzen entlang der Mauer und hohen Stahlbetonskelettneubauten. Eine Stadt, auf der Suche nach einer eigenen Identität – und damit das Abbild einer Gesellschaft im Wandel.

Schöne Neubauwelt in Gropiusstadt
Als Bernd Ziegenhals dem Professor auf der Baustelle eines Hochhausblocks in der Gropiusstadt voller Stolz erklärt, wo in seiner zukünftigen Wohnung die Essecke und der Fernseher stehen wird, ist er endgültig zum Spießer mutiert, ist nichts von seiner unangepassten Attitüde mehr übrig geblieben. Kolczyk hingegen, angesehenes Mitglied der Gesellschaft, hat jede bürgerliche Moral hinter sich gelassen und ist nur noch an seiner Rache interessiert. Sie haben ihre Identitäten getauscht – gesellschaftskritischer in seiner zynischen Konsequenz konnte das Ende nicht sein. 

"Einer von uns beiden" Deutschland 1973, Regie: Wolfgang Petersen, Drehbuch: Manfred Purzer, Hans Otto Besetzky (Roman), Darsteller : Klaus Schwarzkopf, Jürgen Prochnow, Elke Sommer, Berta Drews, Otto Sander, Ulla Jacobsson, Walter Gross, Christina Nel, Peter Schiff, Claus Theo Gärtner, Anita KupschLaufzeit : 101 Minuten

Dienstag, 4. August 2015

Tätowierung (1967) Johannes Schaaf

Inhalt: Benno (Christof Wackernagel) wird von allen Jungs seiner Erziehungsanstalt so lange gejagt, bis sie ihn endlich erwischen. Doch er rückt auch dann nicht mit der erwünschten Information heraus, als einer der Kameraden ihn mit einem Bohrer quält. Bevor dieser zu weit gehen könnte, taucht der Direktor der Anstalt auf, um Benno zu holen, da er an diesem Tag entlassen wird. Der Unternehmer Herr Lohmann (Alexander May) hat den 16jährigen adoptiert und nimmt ihn mit zu sich nach Hause.

Während der Junge schweigend neben ihm herläuft, stellt ihm Herr Lohmann stolz seine Firma vor und zeigt ihm sein zukünftiges eigenes Zimmer. Zudem hat er ihm ein Motorrad gekauft und eine Lehrstelle als Koch besorgt, so dass Benno schnell sein eigenes Geld verdienen kann. Für Benno ist das alles sehr fremd, einzig seine neue Stiefschwester Gaby (Helga Anders), die ebenfalls von dem Ehepaar Lohmann adoptiert wurde, gefällt ihm. Obwohl sein neuer Stiefvater ihm alle Freiheiten lässt, fällt es dem Jungen schwer, sich auf das bürgerliche Leben einzulassen…



Johannes Schaafs Haupt-Interesse galt der Literatur und dem Theater. Schon früh inszenierte er Michel Vinaver ("Hotel Iphigenie" (1964)) im TV oder übernahm eine Rolle in Thornton Wilders "Unsere kleine Stadt" (1967) - drei seiner vier Kinofilme basieren auf Romanen. Nach "Momo" (1986) übernahm er nur noch Theater- und Operninszenierungen. Einzig sein erster Kinofilm "Tätowierung" entstand nicht nur nach einem von ihm selbst verfassten Originaldrehbuch,Schaaf reagierte damit auch unmittelbar auf die gesellschaftspolitischen Veränderungen in Westdeutschland, als sich der Generationskonflikt immer mehr zuspitzte. Die Konsequenz seines Films nahm nicht nur die Radikalisierung der Studentenbewegung vorweg, die Besetzung des späteren RAF-Mitglieds Christof Wackernagel in der Rolle eines aufsässigen Jugendlichen und dessen Rollenname Benno (der Student Benno Ohnesorg wurde am 02.06.1967 von einem Polizisten bei einer Demonstration erschossen, Schaafs Film lief erstmals bei der BERLINALE im selben Monat) verleiht "Tätowierung" einen beinahe prophetischen Anstrich.

Vielleicht einer der Gründe, warum Schaafs damals vielfach ausgezeichneter Film in Vergessenheit geriet, in den 70er möglicherweise sogar geächtet wurde - mir, im Jahrzehnt nach seiner Entstehung sozialisiert, war der Film bis vor kurzem unbekannt. Dank FILMJUWELEN liegt "Tätowierung" endlich in adäquater Form vor und führt mich zu einem weiteren persönlichen Thema - West-Berlin. Anlass für mich, Filme, die den Geist dieser Phase einfingen und die damit einhergehenden Veränderungen dokumentierten, ein eigenes Kapitel auf meinem Blog zu widmen. 


"Vergänglichkeit" - aus heutiger Sicht betrachtet scheint alles in Johannes Schaafs erstem Kinofilm "Vergänglichkeit" auszudrücken, obwohl er mit dem Filmtitel "Tätowierung" das Gegenteil betonen wollte - die gesellschaftliche Klassifizierung eines Menschen ohne Aussicht auf Veränderung. 1967 befand er sich mit dieser kontrovers diskutierten Thematik auf der Höhe der Zeit, mitten im Aufbruch einer sich der Moderne öffnenden Nachkriegsgeneration. Wirtschaftliche Prosperität, Chancengleichheit, Emanzipation und freie Sexualität waren in vollem Gang, die Erfüllung lang gehegter Bestrebungen schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Wer immer noch glaubt, die 68er Bewegung wäre die Initialzündung für die heutige Sozialisation gewesen und nicht überfällig nach zwei Jahrzehnten gesellschaftlichen Wandels seit dem Kriegsende, wird in "Tätowierung" eines Besseren belehrt. Und trotzdem wirkt alles an Schaafs Film vergangen - die Stadt, die Menschen, die Kontroverse und in Konsequenz daraus auch sein Film.

Fabrikgebäude Puhl & Wagner - 1972 abgerissen
Vordergründig steht dafür der Drehort unmittelbar an der Berliner Mauer, das Fabrikgebäude der traditionsreichen Keramikfirma Puhl & Wagner, das vom Architekten der Kaiser-Wilhelm-Kirche, Franz Schwechten, 1903 erbaut wurde. Es musste 1972 einer Straße entlang der Mauer weichen, nachdem die Stadt Berlin es vom Konkursverwalter erworben hatte. 1967, als Johannes Schaaf dort drehte, befand sich die Firma zwar schon seit Jahren im Niedergang, war aber noch aktiv, was der Authentizität als Hintergrund eines von Herrn Lohmann (Alexander May) geführten Familienbetriebs sehr dienlich war. Wiederholt beschreibt er gegenüber seinem Adoptivsohn Benno (Christof Wackernagel) die Geschichte der vom Großvater gegründeten Firma - ein wichtiger Aspekt in dem sich zuspitzenden Generationskonflikt - die dank der Location von größter Glaubwürdigkeit ist. Angesichts der intakten Innenräume mit den wertvollen Mosaiken an den Wänden und des gut erhaltenen Fabrikgebäudes erschließt sich bei Betrachtung des Films erst die Dimension dieser jeden denkmalpflegerischen Gedanken missachtenden Vorgehensweise der Stadt.

Steilwandkurve der Avus - 1967 abgerissen
Auch die zur Avus gehörende Steilwandkurve, auf der sich junge Motorradfahrer in Schaafs Film noch austoben, überlebte die Dreharbeiten nur kurz und wurde 1967 abgerissen, um den Anschluss der Autobahn an den Berliner Ring neu zu ordnen – eine Neuordnung, die symbolisch für den Film steht. Herr Lohmann ist geradezu besessen davon, die alten gesellschaftlichen Regeln auszuhebeln. Er und seine Frau (Rosemarie Fendel) haben zwei Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen adoptiert, neben dem 16jährigen Benno noch die wenig ältere Gaby (Helga Anders). Allein schon Heranwachsende dieses Alters aufzunehmen, birgt ein großes Risiko, aber Herr Lohmann will weit darüber hinaus. Seine Vorgehensweise erinnert an eine Versuchsanordnung, mit der er beweisen will, dass Jeder in der BRD dieselben Chancen zu einem sozialen Aufstieg hat. Er spendiert Benno zu humanen Konditionen ein Motorrad, organisiert ihm eine Ausbildungsstelle und verliert auch nicht die Geduld, als der Junge sich nicht an die Abmachungen hält. Im Gegenteil besorgt er ihm einen neuen Job und unterstützt sogar Bennos erste sexuelle Erfahrungen mit Gaby in der gemeinsamen Wohnung.

Herr und Frau Lohmann
Immer wieder betont er dessen Zugehörigkeit zur Familie, bewahrt auch bei kritischen Äußerungen einen ruhigen Gestus, nur fehlt Herrn Lohmann gegenüber Benno jede Empathie. Emotional ist er in der Vergangenheit stehengeblieben, von der er gerne wortreich erzählt, dabei immer die Phase des Nationalsozialismus ausklammernd. Auch die Beziehung zu seiner Frau verweist noch auf die traditionellen Geschlechterrollen, so modern sie sich äußerlich geben. Über die Funktion als unterstützende Arbeitskraft in der Firma kommt sie nicht hinaus, während sein erotisches Interesse an seiner hübschen Stieftochter latent spürbar bleibt. Es wäre zu kurz gegriffen, Herrn Lohmanns liberale und selbstlose Außendarstellung nur als verlogen zu bezeichnen – sie steht zugespitzt für eine Nachkriegsgeneration, die gezwungen wurde, ihre anerzogenen Maßstäbe in Frage zu stellen. Hinsichtlich seiner „eintätowierten“ Prägung ähnelt seine Situation der Bennos.

Gaby und Benno
Den 16jährigen auf ein Kind aus einfachen Verhältnissen zu reduzieren, das sich in der bürgerlichen Gesellschaft nicht einfinden kann, oder ihn gar als Revoluzzer gegen das Establishment zu begreifen, bliebe an der Oberfläche. Diese Assoziation ist mehr dem Lebensweg Christof Wackernagels zu verdanken, dessen Verkörperung eines unangepassten Jugendlichen aus heutiger Sicht beinahe wie ein Menetekel wirkt. In Folge der späten 60er Jahre zunehmend politisiert, schloss er sich Mitte der 70er Jahre der RAF an. Nach Gefängnisaufenthalt und Auslandsjahren fand er in den 90er Jahren den Weg zurück in den Schauspielberuf. Im Gegensatz zur damals 19jährigen Helga Anders, deren Rolle in „Tätowierung“ sie weiter als verführerische Kindfrau festlegte – ein Klischee, dem sie bis zu ihrem frühen Tod nicht mehr entkam. Schaaf inszenierte ihren Charakter zwar zurückhaltend, ließ aber keinen Zweifel daran, dass sie wie Benno eine Verlorene ist, auf der Suche nach Nähe und Verständnis. Gefühle, die ihnen das Ehepaar Lohmann nicht geben kann.

Benno und die anderen Jungs in der Erziehungsanstalt
Dank ihrer Attraktivität kommt Gaby scheinbar zurecht, Benno muss dagegen erfahren, dass weder der Ex-Häftling Sigi (Heinz Meier), mit dem er sich angefreundet hatte, noch seine früheren Kameraden aus der Erziehungsanstalt, deren Zorn er sich schon vor der Adoption zugezogen hatte, seinen Wunsch nach Geborgenheit erfüllen können. Und als er begreift, dass auch sein Zusammensein mit Gaby keine Tiefe besitzt, bleibt nur noch Herr Lohmann, dessen hartnäckiges Aufrechterhalten einer heilen Fassade für ihn zu einer unerträglichen Provokation wird. Benno zerstört nicht den Menschen Lohmann, sondern dessen Ignoranz gegenüber der Realität und den dadurch verursachten Stillstand. Die Beurteilung des Endes hängt vom jeweiligen Standpunkt ab. Aus bürgerlicher Sicht eine Katastrophe, für Benno ein Moment des Glücks und im Film die Konsequenz aus einem nur nach außen hin behaupteten Veränderungswillen.

Trotz seiner klar strukturierten, jede emotionale Zuspitzung vermeidenden unterhaltenden Erzählweise geriet der Film in Vergessenheit. Die Modernisierung der Gesellschaft schritt voran und ließ den Eindruck entstehen, die „Tätowierung“ der Menschen gehöre der Vergangenheit an. Ein Irrtum – Schaafs Film blieb bis heute von höchster Aktualität.

"Tätowierung" Deutschland 1967, Regie: Johannes Schaaf, Drehbuch: Johannes Schaaf, Günter Herburger, Darsteller : Christof Wackernagel, Helga Anders, Alexander May, Rosemarie Fendel, Heinz Schubert, Heinz MeierLaufzeit : 82 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Johannes Schaaf:

"Trotta" (1971)